Rollen nachhaltig verweigert

Danke, Lichtmeß: Deutschlandpremiere von „Julien Donkey Boy“, Dogma Film Nr.6  ■ Von Urs Richter

Im Moment kann man im Kino zusehen, wie Lobbyismus sich die Gesten politischer Korrektheit aneignet. Im Werbespot eines Behindertensportvereins rudert ein geis-tig zurückgebliebener Rollstuhlfahrer pantomimisch die Arme, schnüffelt angeekelt an den Fingerspitzen und löst das Bilderrätsel auf. Was das war? Ein Rolli, der durch Scheiße gefahren ist. „Ob wir das lustig finden“, fragt der Zwischentitel und die nächsten Bilder geben die Antwort „Wir auch“. Die Kumpels lachen, einer mit Down-Syndrom schmeißt den Gettoblas-ter an, „He's a mongoloid“ kräht es punkrockig durch die Turnhalle, und dann haben alle viel Spaß. Na klar, wir lachen mit, solange Benachteiligte über sich selbst lachen. Wir sind doch keine Spaßverderber.

In Harmony Korines Filmdebüt Gummo gibt es eine Szene, in der sich ein debiles, dickes Mädchen die Augenbrauen abrasiert, weil sie sich attraktiver findet so. „Hier hört der Spaß auf“, empörten sich Publikum und Kritik und offenbarten die Hochnäsigkeit der Diskussion, die da verhandelt, wann wer wie über Behinderte, Außenseiter, Minderheiten lachen darf. Denn was überhaupt als lustig gelten darf, hat die nicht gehandicapte Mehrheit stets lange zuvor für sich entschieden. Aber sind Behinderte lustig?

In Julien Donkey Boy, Korines zweitem Spielfilm, sind sie es entschieden nicht. Sie sind nervend, lärmig und berühren peinlich bei der Nach-ahmung der Freizeitvergnügen und All-tagsgewohnheiten, die sie für normal halten. Sie treffen sich zum Bibelkränzchen und intonieren Plattitüden, sie tanzen tollpatschig zur Schweineorgel eines Alleinunterhalters,sie ruinieren Bowlingbahnen und Fingernägel durch waghalsige Wurftechniken – und sie zeigen nicht das geringste Interesse, dabei ein Image zu erfüllen. Nicht das vom körperlich Behinderten, der große innere Stärke besitzt. Nicht das vom liebenswert Infantilen. Nicht das vom geistig erkrankten Genie.

Julien Donkey Boy erzählt von Körpern, wenn sie nicht funktionieren. Wenn Glieder fehlen, Sinne versagen oder Hirne. Wenn der Organismus kein Bild der Welt mehr zulässt, das sich mit anderen teilen ließe. Wenn Wahrnehmung selektiv wird. Ein blindes Mädchen hat seine Bowlingkugel auf die Bahn gebracht. Die Kamera verharrt auf ihrem Gesicht, nähert sich wacklig den stumpfen Augenlöcher. Endlose Sekunden lauschen wir mit ihr auf das Krachen der Kegel. Treffer. Selten wurde ein Lachen zärtlicher eingefangen als jetzt. Die Hauptfigur Julien, pathologisch schizophrener Sohn einer latent schizophrenen Familie, flaniert mit versteckter Kamera an Passanten vorbei, dokumentiert ihre Reaktionen auf sein manisches Monologisieren. Dann dreht sich die Blickrichtung, die hektischen Bilder sind ausgefüllt mit Juliens wirren Locken, Triefnase, Sabbermund.

So fragmentiert hier Körperlichkeit dargestellt wird, so fragmentiert arbeitet Korine die Palette visueller Stilistik ab. Detailversessen zuckt die Kamera nach der Zigarette in Werner Herzogs Hand, mittels eines starken Tele-Objektivs verfolgt sie Chloe Sevignys Spaziergang durch goldene Binsenfelder, schießt Polaroids und Standphotos dazwischen, klaut Zeitlupenstudien von Eisläuferinnen aus dem TV, verliert sich in „artsy-fartsy“ Expressionismus, bleibt den Darstellern chronisch zu nah oder zu fern. Bevor sich – wie in der Werbung – ein bestimmter Duktus als Vehikel eines „Lebensgefühls“ erweisen könnte, hat Korine bereits das Genre gewechselt. Seine Achtung vor den Porträtierten, der inzestuösen Familie, den Kranken, beweist sich in der Gelassenheit, mit der er ihre mediale Eingrenzung verweigert.

Der Film ist gemäß den Dogma 95-Regeln inszeniert, für den bundesdeutschen Vertrieb von einem großen Verleih erworben und in staubige Archivregale entsorgt worden. Nach abenteuerlichem Hickhack mit den Rechteinhabern zeigt das Lichtmeß ihn morgen als Premiere im regulären Kino.

morgen, 20 Uhr, Lichtmeß