: Von der Finsternis geblendet
Hotelbesitzer hoffen auf Touristen, jedes Dorf gründet ein Komitee, und der Präsident nutzt die Sonnenfinsternis, um seine Wiederwahl zu sichern
aus Antananarivo FRANÇOIS MISSER
Jeder Bauer weiß Bescheid. Wird mein Zebu blind, wenn der große Tag kommt? Radio und Fernsehen geben Antwort, stundenlang jeden Tag. Der Präsident beruft eine Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung des neuen Senats ein – und spricht von der „Priorität aller Prioritäten“: Die Sonnenfinsternis, die am 21. Juni über dem südlichen Afrika zu sehen sein wird.
Als Madagaskars Präsident Didier Ratsiraka, der 65-jährige Exmarxist und selbst ernannte „humanistische Ökologe“, die Presse in seinen Palast Iavoloha bittet, erwarten alle, dass er seine Kandidatur für die kommende Präsidentschaftswahl im November bekannt gibt. Aber nein: Er spricht vom Bedarf der 15 Millionen Madegassen an Spezialbrillen. Damit niemand erblindet, wenn die Sonnenfinsternis kommt. Drei Millionen Dollar, ein Vermögen auf der bitterarmen Insel, hat die Regierung dafür zur Verfügung gestellt. Man könnte den Leuten, mäkeln Apotheker, natürlich auch davon abraten, am 21. Juni überhaupt in den Himmel zu gucken, und das Geld statt dessen für Medikamente gegen Seuchen einsetzen, gegen Pest, Cholera, Tuberkulose und Malaria. Abgesehen davon, dass die Straßen Madagaskars schlecht sind und es daher erstaunlich wäre, wenn die Brillenverteiler wirklich jeden Bauern erreichten. Die Aktion nützt vor allem der französischen Firma Saffire, die neun Millionen Brillen nach Madagaskar verschifft hat. Den Vertrag erhielt sie dank der Intervention des Präsidenten. Abgewickelt wird das Geschäft von der madegassischen Staatsfirma Salama. Die wurde mit finanzieller Hilfe der Weltbank gegründet, damit wichtige Medikamente verteilt werden.
Vorsicht, Schmuggelbrillen!
Noch im kleinsten Dorf hängen Plakate, die vor der Gefahr der Sonnenfinsternis warnen. „Wie besiegen wir die Herausforderung der Sonnenfinsternis?“, fragt der Leitartikel einer Wochenzeitung. Jede Verwaltungseinheit hat ein Sonnenfinsterniskomitee ins Leben gerufen. Eifrige Bürokraten erregen sich über Schmuggelbrillen, die keinen richtigen Schutz bieten. Hotelbesitzer hoffen auf Touristen.
Madagaskar will am 21. Juni ganz vorne sein. Die Insel sei ein viel besserer Ort, um die Sonnenfinsternis zu sehen, als zum Beispiel Simbabwe mit seiner politischen Instabilität, sagte der Staatschef vor kurzem und trat damit eine diplomatische Krise los. Da die totale Sonnenfinsternis Simbabwe nur streift, hatte Ratsiraka sogar irgendwie Recht.
Nein, Präsident Ratsiraka macht dies natürlich nicht, um seine Wiederwahl im November zu befördern. Er ist ein kultivierter Mann, Absolvent der Hohen Seekriegsschule in Frankreich, fasziniert von wissenschaftlichen Problemen. Aber der Präsident geht aus der Episode Sonnenfinsternis zufällig doch politisch gestärkt hervor. Den traditionellen Glauben, wonach der Tag, an dem „die Sonne stirbt“, für Madagaskars Herrscher lebensgefährlich sei, hat er auf den Kopf gestellt und sich damit unangreifbar gemacht. Ratsirakas Partei „Konvention zur Renaissance Madagaskars“ hat ihn, ganz sonnenfinsternisbegeistert, im März einstimmig als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Sein einst als Konkurrent verdächtigter Vizepremier Pierrot Rajaonarivelo hat sich zurückgezogen mit dem Hinweis, er sei kein Judas und werde seinen Jesus nicht verraten. Die Partei braucht den Glauben an ihren Führer. Madagaskar ist nämlich von ethnisch-regionalen Gegensätzen zerrissen – zum Beispiel zwischen den alteingesessenen, seit der Kolonialzeit gut ausgebildeten Merina- und Betsileo-Völkern des Hochlandes im Landesinneren, deren Vorfahren einst aus Indonesien einwanderten, und den eher afrikanisch geprägten Küstenbewohnern.
Foie gras im Büffelzeitalter
In der Hauptstadt Antananarivo, Tana genannt, leben zwei Millionen Menschen. Die Stadt versammelt den Großteil der Auslandsinvestitionen des Landes, vor allem Textilunternehmen aus Asien, Mauritius und Frankreich, die den Monatslohn von umgerechnet 60 Mark ausnutzen. Der letzte Schrei sind Internet- und Software-Firmen, die für französische Kunden arbeiten. In wenigen Jahren hat Tana sich mit Einkaufszentren gefüllt, wo man foie gras und Bordeaux-Wein kaufen kann, keinen Steinwurf von den Märkten für normale Menschen entfernt. Die Staus auf den Straßen sind monströs, da kein nach Madagaskar importiertes Auto je fahruntüchtig zu werden scheint.
Wenige Kilometer entfernt herrscht noch das Büffelzeitalter. 85 Prozent der Madegassen leben auf dem Land, 70 Prozent unter der Armutsgrenze, 50 Prozent sind Analphabeten. Die Arbeiter der Freihandelszonen merken langsam, wie ungleich die Früchte des Wachstums verteilt werden. Die ständig wachsenden Unterschiede führen zu Frustration, zu Forderungen nach mehr regionaler Autonomie und auch zu ethnischen Spannungen. Alle Madegassen wissen noch, wie 1972 in der Hafenstadt Toamasina die aus dem Hochland stammenden Merinas verjagt wurden, wie 1995 in Tana der alte Merina-Königspalast in Flammen aufging und angeblich niemand wusste, wer den Brand gelegt hatte. In diesem Mai haben Bewohner der Küstenprovinzen Beamte und Angestellte aus dem Hochland aufgefordert, nach Hause zu gehen. Präsident Ratsiraka hat per Referendum eine Regionalisierung durchgesetzt, aber nur zehn Prozent des Staatshaushalts gehen an die Regionen.
Soll das Getöse um die Sonnenfinsternis dazu dienen, solche Probleme zu verschleiern? Wenn dies der Fall ist, so ist Ratsiraka äußerst effizient. Er behindert Marc Ravalomanana, den Bürgermeister der Hauptstadt und möglichen Rivalen bei der bevorstehenden Wahl. Die Weltbank finanziert Ravalomanana ein Anti-Cholera-Programm in der Hauptstadt, aber der Staat verhindert dessen Umsetzung. Im Mai beschlagnahmten die Behörden Ravalomananas Flugzeug, mit dem er Zucker in die Region Diego Suarez transportieren lassen wollte: Es sei angeblich nicht richtig angemeldet.
Ein anderer Oppositioneller, der Vizepräsident des Parlaments Jean-Eugène Vonahitsy, sitzt seit Weihnachten im Gefängnis. Er soll ungedeckte Schecks ausgestellt haben – nicht gerade ein seltener Vorgang auf Madagaskar. Die Anklage wurde wenig später auf Beleidigung des Staatspräsidenten umformuliert. Vonahitsy hat Ratsiraka vorgeworfen, die Weggebühren einer von der Ukraine gelieferten Pontonbrücke in die eigene Tasche gesteckt zu haben.
„Die Korruption ist auf Madagaskar nahezu epidemisch geworden“, klagt Patrick Rajaonary, Präsident des madegassischen Industriellenverbandes und bisher einziger erklärter Gegenkandidat Ratsirakas zu den Wahlen. Auch für ihn kommen Probleme auf: Seine Firma habe Steuern hinterzogen, heißt es in einem Papier der Behörden.
Nie war Präsident Ratsiraka so mächtig. Seine Wiederwahl scheint gesichert. er kontrolliert die Präsidentschaft, das Parlament, den Senat und die Gouverneursposten. Als der neue Senat eröffnet wurde, lobten das die westlichen Geldgeber als „demokratischen Fortschritt“, weil die neue Parlamentskammer die Regionen repräsentieren soll. In Wirklichkeit wird ein Teil der Senatoren von traditionellen Führern gewählt, der Rest vom Präsidenten. „Es wird mehr teure Autos geben, das ist alles“, meint ein Beobachter. Schließlich braucht Ratsiraka die Unterstützung der Barone.
Wenigstens reden sie alle heute brav von der Sonnenfinsternis. Und die madegassischen Zebus werden höchstwahrscheinlich nicht erblinden. Sie verhalten sich einfach so, sagen Wissenschaftler, als bräche der Abend an: Sie werden vorübergehend ein bisschen müde. Ganz wie Madagaskars Intellektuelle, denen das Profil des Präsidenten auch ein wenig zu scharf in die Augen sticht.
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