Tierhäute und Tätowierungen

Der Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde hat seine Erfahrungen mit Obdachlosen aufgeschrieben. Ein anrührendes und ungewöhnliches Buch

von UTE SCHEUB

Ein Pope muss gut reden und predigen können, aber nicht gut schreiben. Pfarrer Joachim Ritzkowsky von der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Kreuzberg kann tatsächlich nicht besonders gut schreiben, er neigt zu bürokratischen Spiegelstrichaufzählungen. Und dennoch legt man „Die Spinne auf der Haut – Leben mit Obdachlosen“ nicht mehr aus der Hand; das schmale Büchlein ist spannender und lebensnaher als so mancher postmoderne Hauptstadtroman. Ritzkowsky schreibt einfühlend, aber gänzlich unsentimental, mit dem Blick eines neugierigen Ethnologen auf eine fremde und achtenswerte Kultur. Und gerade das berührt einen so viel mehr als die übliche christliche Heuchelei angesichts der armen, armen Obdachlosen.

Ritzkowskys Gemeinde betreibt seit inzwischen über zehn Jahren eine wintertags geöffnete Wärmestube, die von 80 bis 150 Obdachlosen besucht wird. Der Pfarrer und seine ehrenamtlichen Helfer geben dort Kaffee und warme Suppen aus, verteilen Kleiderspenden, führen Gespräche. Anfang 1996 stand Ritzkowsky als Angeklagter vor dem Landgericht, weil er kranke Obdachlose, die in öffentlichen Toiletten lebten, in seinem Gemeindehaus angemeldet hatte, um ihnen zu Ausweis, Sozialhilfe und Krankenscheinen zu verhelfen – der Prozess endete mit Freispruch. Anfang dieses Jahres verlieh die Humanistische Union Berlin dem 63-Jährigen den Ingeborg-Drewitz-Preis für sein menschenrechtliches Engagement.

Zu seinem Titel kam das Buch, als der Pfarrer dem Obdachlosen Rolly begegnete. „Am Ohr, am Hals, auf der Nase, an der Lederjacke, an den Händen, überall trug er metallene Spinnen“ und Spinnentätowierungen. Rolly erzählte ihm, warum: „Weil die Spinne das verachtete Tier ist.“ Ritzkowsky wusste zu berichten, „dass Spinnen einmal Tiere einer verehrten Gottheit gewesen sind“.

Auch viele andere Obdachlose tragen nach seiner Beobachtung satanische Tätowierungen: Spinnen, Schlangen, Totenköpfe, Fledermäuse, Skorpione, Drachen. Das Wort „Charakter“, weiß der Autor, komme vom griechischen charasso: einritzen, einprägen, eben tätowieren. „Derjenige Mensch hat einen Charakter, der eine Prägung erhalten hat“, also seltsamerweise auch und „gerade der ‚abgestempelte‘ Mensch“. Angehörige der bürgerlichen Welt wiesen sich durch Pass und Mastercard aus, Obdachlose durch Symbole der verfemten Unterwelt. „Auch Tätowierungen zeigen den intensiven Wunsch von Menschen nach Zugehörigkeit, Schutz und Geborgenheit durch eine Macht an“, glaubt Ritzkowsky. Die Spinne sei das Symbol „der Einheit von Leben und Tod, von Schöpfen (Spinnen) und Vernichten (die Spinne frisst den Faden), der Einheit von oben und unten, der Einheit des Drunter und Drüber (Spinnen, Weben, Flechten).“

Sein Leben mit Obdachlosen veränderte die Wahrnehmung des Pfarrers: Scheinbare Selbstverständlichkeiten entpuppten sich immer mehr als ritualisierte gesellschaftliche Übereinkommen. Nur ein Mensch, der durch gesellschaftliche Hüllen geschützt ist, könne es sich leisten, Haut zu zeigen, stellt Ritzkowsky fest. „Eine Dame, die per Taxi in Begleitung eines Herrn zur Oper fährt, genießt den Schutz ihres Pelzes, ihres Begleiters, des Autos, des Theaterbaus, der im Theater befindlichen Türhüterinnen . . . Nacktheit ist ursprünglich ein Privileg der Götter, die unantastbar sind – und noch heute stehen sie nackend im Park von Sanssouci.“ Ganz im Gegensatz zu den Obdachlosen: „Viele Menschen der Szene sind in Leder gekleidet. Es ist eine Art Schutzhülle, Rüstung, ein harter, beschlagener Panzer. Auch tragen Obdachlose häufig mehrere Kleidungsstücke übereinander.“ Sogar an warmen Sommertagen sehe man sie „in Militärmänteln mit Lederjacken darunter“.

Die Erklärung des Autors: „Ein Mensch auf der Straße ist sowohl von außen als von innen gefährdet und wird leicht angetastet. Die äußere Gefährdung besteht in täglichen Angriffen, verbalen Beleidigungen, Waffengebrauch, aber auch im Ausgeliefertsein an Witterung, Verkehrslärm, Behörden, Gerichte und Polizeibeamte. Die innere Gefährdung besteht darin, dass Obdachlose oftmals keinen Menschen haben, der sie stärkt, erwartet, an sie denkt, sie sehen will, sie liebt. Ihr Ich ist vielfach beschädigt und gekränkt. Ein Leben ohne Wohnung und Beruf, ohne Scheckkarte und Beziehungen macht unsicher. Die Kleidung der Obdachlosen hat die Funktion, die gefährdete Existenz zu sichern.“

Joachim Ritzkowsky: „Die Spinne auf der Haut – Leben mit Obdachlosen“. Alektor Verlag Berlin 2001, 18,50 DM