In Netz der Psychologie

Die empirische Sozialwissenschaft versucht zu erklären, was uns alle ins Internet treibt. Aber auch die Wissenschaftler selbst gehen gern online: Ihre Testpersonen sind zu Haue am eigenen PC billiger und ehrlicher als im Labor der Universität

von RALPH LENGLER

Wer chattet, ist nie allein – nicht nur weil Geselligkeit jeder Art der Zweck der Übung am Keyboard ist. Chatter sind ein begehrtes Objekt der Wissenschaft, und so kann es denn schon mal vorkommen, dass der ganz private Small Talk mit einem mehr oder weniger gut getarnten Psychologen akribisch aufgezeichnet und ausgewertet wird. Sozialwissenschaftler haben ihre eigenen Methoden der virtuellen Feldforschung entwickelt, mit denen sie uns beim Surfen über die Schulter gucken.

Unter dem vornehmen Titel „angewandte Forschung“ verbirgt sich gelegentlich auch handfeste Auftragsarbeit. Ein Ergebnis sind die so genannten Portalseiten – der Albtraum aller Nerds. Aber Psychologen fanden mit ihrer „Usability“-Forschung heraus, dass Informationsangebote auf engstem Raum ohne viel eigene Intelligenzleistung anklickbar sein müssen.

Größere öffentliche Aufmerksamkeit erregen aber regelmäßig Studien über die so genannte Internetsucht, der vor allem Jugendliche häufig zu verfallen scheinen. Viel zitiert ist in Deutschland die Arbeit von André Hahn an der Humboldt-Universität Berlin. Ihm selbst ist der Medienwirbel um seine Untersuchung inzwischen peinlich. Schon der Terminus „Internetsucht“ stifte Verwirrung, führte er kürzlich auf der „German Online Research Conference“ in Göttingen aus. Denn nicht das Internet als solches mache abhängig, sondern nur bestimmte Angebote, die so genannte Flow-Erlebnisse auslösen. Sie können zu einem Verhalten führen, das gewisse Kriterien der Süchtigkeit erfüllt.

Für Hahn gilt als „internetabhängig“, wer in seinem Fragebogen hohe Werte bei den Fragen erreicht, die in der Auswertung auf eine Einengung des Verhaltensspielraums, auf Kontrollverlust, Toleranz gegen sich selbst, Entzugserscheinungen und Probleme in sozialen Beziehungen und Beruf schließen lassen. Bei etwa drei Prozent der 10.000 Befragten der Humboldt-Studie sei nach diesen Vorgaben ein „pathologischer Internetgebrauch“ festgestellt worden.

Sucht bildet

Bei geschätzten 24,2 Millionen Internetnutzern im Januar 2001 müsse man daher bundesweit mit höchstens 720.000 Onlinesüchtigen rechnen, sagt Hahn, und warnt davor, Ergebnisse aus Statistiken im Web selbst, etwa unter internetsucht.de, hochzurechnen. Solche Adressen ziehen vor allem diejenigen an, die bereits von sich selbst glauben, dass sie sich zu viel im Internet aufhalten.

Auch bei den tatsächlich Internetsüchtigen möchte Hahn unterscheiden. Er hat zwei Hauptgruppen festgestellt. Zum einen gibt es die Chat- oder Kommunikationssucht, von der überproportional viele Frauen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren betroffen sind. Während man hier von einer veritablen Krankheit sprechen muss – es kam auch schon zum Entzug von Sorgerechten –, gilt das für die Mehrheit der Internetabhängigen, vornehmlich Männer im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, nicht. Hahn hält ihre Sucht eher für ein Symptom „entwicklungspsychologischer Aufgaben beim Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalters“. Es geht darum, eine eigenständige Persönlichkeit in der Erwachsenenwelt aufzubauen. Das Hacken von Websites könne ein Ausweg aus dieser wenig lustvollen Lebensphase sein: Hacker kapseln sich von der Außenwelt ab, um in virtuelle Communities abzutauchen.

Doch selbst diese Realitätsflucht sollte nicht zu hoch bewertet werden, meint Hahn. Denn auf 99 Prozent aller Nutzer habe das Netz einen positiven Effekt. Und beim restlichen einen Prozent sei man zwischenzeitlich nicht mehr so sicher, dass ihr Verhalten wirklich schädlich sei. Zweifellos erfüllten viele jugendliche Hacker Hahns Suchtkriterien, die dabei gewonnenen überdurchschnittlichen Kenntnisse verbesserten aber später ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Die positiven Effekte des Internets, so Hahn weiter, machten sich insbesondere bei gesellschaftlichen Randgruppen, Leuten mit speziellen Interessen oder aber geringer äußerlicher Attraktivität bemerkbar. Bei Interaktionen im realen Leben ist der erste visuelle Eindruck entscheidend. Umgekehrt im Netz: Der erste Eindruck im Chat ist ein Text, der viel eher auf den tatsächlichen Charakter einer Person schließen lässt. Das körperliche Äußere wird später dieser ersten Prägung untergeordnet – eine These, die durch Studien von Katelyn McKenna gestützt wird: Beziehungen, die im Internet geknüpft wurden, erweisen sich häufig als beständiger als diejenigen, die über einen rein audiovisuellen Erstkontakt zustande kamen.

Die wachsende Flut solcher Studien mit oft kontroversen Ergebnissen stellt die Frage nach den Methoden dieser Forschung immer dringender. Ein Pionier ist das sechs Jahre alte Web-Labor für Experimentelle Psychologie (www.genpsylab.unizh.ch) in Zürich. Seine Website bietet die Gelegenheit, an Untersuchungen von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt teilzunehmen. Oft sind diese so genannten Web-Experimente spielerisch gestaltet und für die Probanden selbst lehrreich. Der Gründer Ulf-Dietrich Reips benennt eine Reihe von Grenzen der konventionellen Forschung, die im Internet überschritten werden können: Web-Labore könnten leichter und schneller, gezielter und auch noch billiger große Mengen von Versuchsteilnehmern erreichen, die bequem von zu Hause aus einen Einblick in einen „gläsernen Elfenbeinturm“ gewinnen.

Test ohne Stress

Reips meint sogar, damit Ergebnisse traditioneller Studien verbessern zu können: „Web-Experimente liefern uns eine historische Chance, bisherige Erkenntnisse der psychologischen Grundlagenforschung zu validieren.“ Oft tragen nämlich die Umstände, unter denen geforscht wird, zu der Art der Ergebnisse bei – zum Beispiel weil sich Versuchsteilnehmer im Labor an der Uni ganz anders fühlen als zu Hause an ihrem PC, wo sie wissen, dass sie ohne peinliche Erklärungen eine Untersuchung einfach abbrechen können.

Aber auch Reips und andere Vorreiter der Internetpsychologie warnen vor modischen Selbsttest-Portalen (wie unter www.testedich.de zu finden), die Antworten auf alle möglichen und unmöglichen Fragen des Seins versprechen. Gelegentlich verirren sich zwar auch seriöse Tests dorthin, doch verbieten es die Berufsordnungen der Psychologen und Ärzte, Ferndiagnosen zu stellen. Denn schon aus prinzipiellen Gründen kann kein Test allein eine korrekte und ausreichende Diagnose liefern. Die seriöse Testanwendung ist ohne eine entsprechende Begleitung durch geschultes Personal nicht möglich. Außerdem: Was passiert, wenn eine labile Person eine verhängnisvoll klingende Ferndiagnose erhält?

Obwohl auch schon andere Formen der Onlinetherapie im Entstehen sind, wie bei der Therapie posttraumatischer Störungen, bleibt die zentrale Frage der Seriosität wie auch der Zumutbarkeit von Ferndiagnosen bestehen. Aus diesem Grund sollte man nur Tests, die der Prävention dienen, als seriös betrachten, beispielsweise die Comrelax-Website der Uni Leipzig (www.comrelax.de), die sich der Stressprävention verschrieben hat. Nach Ausfüllen eines kurzen Fragebogens zur Abschätzung des aktuellen Belastungsgrades erhält der User neben dem Belastungsscore auch auf seine individuelle Situation zugeschnittene Tipps zur Stressbewältigung.

dreikommaacht@eplus-online.de