Beweglich wie eine Wolke

Manche Migranten klemmen sich unter Lkws, andere verstecken sich in Schiffscontainern oder tauschen Boardingpässe auf dem Hongkonger Flughafen

aus Hongkong SVEN HANSEN

Zwei Zollbeamte machen sich im Hongkonger Hafen Kwai Chung an einem Frachtcontainer zu schaffen. Mit Schraubenziehern hebeln sie die Gummidichtung der Tür aus. Durch den schmalen Spalt schieben sie einen Aluminiumstab hinein. Er ist mit einem Messgerät verbunden, das den Kohlendioxidgehalt im Innern des Containers misst. Schnellt die Anzeige des Geräts nach oben, wissen die bewaffneten Zöllner, dass jemand im Container atmet – wahrscheinlich ein oder mehrere Chinesen, die als blinde Passagiere nach Nordamerika, Australien, Japan oder Westeuropa reisen wollen. Bei diesem Container schlägt das Messgerät nicht aus. Offenbar sind nur die deklarierten Kartons mit tausenden von Gummilatschen „Made in China“ darin – Fahrtziel Chicago.

Der Menschenschmuggel per Frachtcontainer geriet in die Schlagzeilen, als vor einem Jahr im britischen Dover 58 Chinesen erstickt in einem Lkw-Container aufgefunden wurden. In der südchinesischen Handels- und Verkehrsmetropole Hongkong stieß man bereits ein halbes Jahr früher auf diese Variante des Menschenschmuggels, nachdem in nordamerikanischen Pazifikhäfen Chinesen aus Containern geklettert waren, die zuvor vom chinesischen Festland über Hongkong gekommen waren. Auch dabei gab es Todesfälle. Seitdem versuchen Hongkongs Behörden in den Millionen von Containern, die jährlich die chinesische Sonderzone passieren, Migranten aus China aufzuspüren.

Waren dürfen reisen

„Im vergangenen Jahr haben wir 44.000 Container überprüft“, sagt Hui Chiu-chun. Der Zöllner ist Chef des südlichen Inspektionsgeländes im Hafen Kwai Chung, einem der umschlagstärksten Containerhäfen weltweit. 450.000 Schiffsbewegungen wurden hier im vergangenen Jahr registriert, davon 80.000 von Überseeschiffen. So weit das Auge reicht, stapeln sich die Container. Aufschriften wie Maersk, Hanjin, Hyundai, YKL, Cosco, Evergreen oder Hapag Lloyd zeugen von der Globalisierung. Dazwischen bewegen sich Kräne, Gabelstapler und Sattelschlepper. 32.500 Containereinheiten werden hier täglich verladen. „Bei ankommenden Containern suchen wir nach Drogen und Schmuggelware, bei den abfahrenden nach Menschen“, erklärt Hui. „Container, die in die USA, nach Kanada, Westeuropa oder Australien unterwegs sind, checken wir stärker als solche mit anderen Zielen.“

Laut Hui benutzten die Menschenschmuggler zunächst Container mit einem Dach aus einer Plane statt Blech. Löcher wurden hineingeschnitten, damit die blinden Passagiere nicht erstickten. Von diesen so genannten Soft-Top-Containern gibt es weltweit aber nur wenige tausend. Sie zu überprüfen ist nicht schwer. „Aber dann stiegen die Syndikate auf geschlossene Allzweck-Container um, die sie modifizieren. Seitdem überprüfen wir Soft-Top-Container, Allzweck-Container und sogar Kühlcontainer“, erklärt Hui. Erleichterung brachten erst die Kohlendioxidtester.

„Die ersten Berichte über Menschenschmuggel in Containern erhielten wir im Dezember 1999 aus den USA. Von Ende 1999 bis April 2000 gab es dort elf Fälle. In allen Fällen hatten die illegalen Migranten aus China die Container hier in Hongkong bestiegen“, sagt Hui. „Sechs der aufgeflogenen Fälle wurden nach einem Tipp von uns entdeckt.“

Seitdem wurde in den USA kein Schmuggel von Chinesen per Schiffscontainer über Hongkong mehr entdeckt, dafür im April dieses Jahres zwei Fälle, in denen Chinesen in Containern über Südkorea unterwegs waren. „Wir haben hier in Hongkong die letzten Fälle im Oktober und Dezember 2000 entdeckt“, sagt Hui. Durch einen Kohlendioxidtest wurden am 18. Oktober in Kwai Chung 26 illegale Migranten aus China in einem Container gefunden. Der sollte zwei Tage später auf ein Schiff mit Ziel Kalifornien verladen werden. Im März verurteilte ein Hongkonger Gericht die Migranten zu 18-monatigen Haftstrafen wegen des „Versuchs, als blinde Passagiere zu reisen“. Zwölf weitere Chinesen ereilte am 10. Dezember das gleiche Schicksal, als sie in Kwai Chung bei einer Polizeirazzia entdeckt wurden.

„Es kommen sicher mehr durch, als wir erwischen“, sagt Kommissar Steve Tarrent vom „Büro für organisiertes Verbrechen und Triaden“ im Hauptquartier der Hongkonger Polizei. Tarrents Vorgesetzter, Hongkongs stellvertretender Sicherheitssekretär Timothy Tong, verweist darauf, dass die Zahl der in der Sonderzone aufgegriffenen illegal eingereisten Chinesen rückläufig ist: „Wurden hier 1998 noch 14.000 Illegale verhaftet, so waren es 1999 nur 12.000 und im Jahr 2000 nur noch 8.000“, sagt Tong. Tong macht für den Rückgang nicht nur Hongkongs eigene Anstrengungen verantwortlich, sondern auch Entwicklungen in China: „Dort ist der Wohlstand gewachsen, und in Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen werden Vorkontrollen durchgeführt.“

An Hongkongs nördlicher Grenze zum chinesischen Festland befehligt der Polizeioffizier Shue Chi-yuen eine Einheit der 500 Mann starken Grenzpolizei, die die 35 Kilometer lange Land- und Flussgrenze zwischen Hongkong und der Sonderwirtschaftszone Shenzen rund um die Uhr bewacht. Während auf der Hongkonger Seite Felder und ein Naturschutzgebiet die Landschaft prägen, wandelte sich auf der Festlandsseite das Fischerdorf Shenzhen in den letzten zwanzig Jahren in eine Großstadt mit drei Millionen Einwohnern.

Auch nach der Rückgabe des einst britischen Hongkong an China wird die innerchinesische Grenze streng überwacht, da auf beiden Seiten unterschiedliche Gesetze gelten und es ein großes Wohlstandsgefälle gibt. „Wir haben gerade heute morgen zwei illegale Grenzgänger in unserem Grenzabschnitt gefasst“, berichtet Shue beim Briefing in einem der 27 Wachtürme. Etwa fünf seien es in seinem Abschnitt pro Tag. Sie klettern über den Grenzzaun oder hängen sich unter Lkws. „Das ist sehr gefährlich“, sagt Shue. Er trägt einen tarnfarbenen Kampfanzug, an dessen Gürtel neben dem Revolver ein Teleskopschlagstock und Einwegplastikhandschellen baumeln. Der Grenzzaun ist 3,50 Meter hoch, oben zur Festlandsseite hin abgeschrägt und mit zwei Rollen Stacheldraht gesichert. Unten ist der Zaun stärker und hat enge Maschen, die das Ansetzen einer Zange unmöglich machen. Zusätzlich enthält er einen Kontaktdraht, der bei Berührung Alarm schlägt, dazu kommen Überwachungskameras. „Es ist erstaunlich, wie schnell der Zaun letztlich doch überwunden werden kann,“ sagt Shue und zeigt auf erbeutete Wurfanker. „Doch wir mußten auch schon Illegale aus dem Stacheldraht schneiden.“ Von denjenigen, die sie nachts auf ihrer Wärmebildkamera sehen, würden sie 90 Prozent schnappen. „Manchmal verstecken sie sich in einem Fischteich, den wir dann stundenlang bewachen müssen.“ Wer hier erwischt wird, wird aufs chinesische Festland abgeschoben, wo er meist für drei bis vier Wochen ins Gefängnis muss.

Todesfälle schrecken ab

„Die Formen des Menschenschmuggels ändern sich laufend. Sie sind nicht starr wie ein Turm, sondern beweglich wie die Wolke darüber. Kaum hat man ihre Form beschrieben, hat sie sich schon wieder verändert, doch sie ist noch da“, sagt David Hodson vom Zentrum für Kriminologie der Universität Hongkong. Der Menschenschmuggel per Container sei auch für die Schlangenköpfe genannten Schmuggelsyndikate problematisch, da die Risiken kaum zu überblicken seien. Die Todesfälle hätten potenzielle Migranten abgeschreckt.

Längst gibt es attraktivere Methoden: „Chinesen können heute ganz legal als Touristen mit dem Flugzeug nach Hongkong reisen, wo sie dann im Transitbereich des Flughafens einen Boarding-Pass von einem Mittelsmann bekommen, der sich zuvor legal auf einen Flug nach Nordamerika oder Europa eingecheckt hat, aber gar nicht fliegt“, sagt Polizeikommissar Tarrent. Deshalb werden in Hongkong jetzt auch beim Besteigen des Flugzeugs die Pässe kontrolliert. Die Menschenschmuggler brauchen daher gefälschte Pässe oder weichen auf andere Flughäfen wie Bangkok aus. „Es ist ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel. Wir können nie sagen, dass wir die Oberhand haben, wir können nur versuchen, die größten Löcher zu stopfen“, so Kommissar Tarrent. Sein Kollege Hui Chiu-chun vom Zoll hofft auf Arbeitserleichterung durch riesige Scanner, die seine Behörde gerade angeschafft hat. Damit können ganze Container durchleuchtet werden. Dabei denkt Hui nicht nur an Menschenschmuggel. „Menschen zu finden ist im Vergleich zu Drogen noch einfach.“