Spurensicherung der besonderen Art

Die Berliner Geschichtswerkstatt blickt zurück auf 20 Jahre Geschichte zum anfassen und erleben

Gegen staatlich verordnete Geschichtsbilder: „Wir wollen Stolpersteine sein und manchmal durchaus provozieren.“

„Über dieser Stadt ist kein Himmel“, ertönt eine Stimme, als das Schiff von der Jannowitzbrücke ablegt. Die Mitfahrenden können sich mit einem kurzen Blick nach oben vom Gegenteil überzeugen. Doch es geht bei dieser von der Berliner Geschichtswerkstatt organisierten Tour durch Landwehrkanal und Spree nicht um Wirklichkeit, sondern um Kunst. Zu den Häusern und Brücken, die an den Passagieren vorbeigleiten, werden passende Lieder und Texte vorgetragen. Marlene Dietrich singt eine Hymne an die Spree, Joachim Ringelnatz nimmt sich der Kanäle und Stadtstreicher an. Und Kurt Tucholsky vermisst den Himmel über Berlin.

Die Vermittlung von Kultur auf unkonventionelle Weise hat sich die Berliner Geschichtswerkstatt, die heute ihren 20. Geburtstag feiert, schon bei ihrer Gründung auf die Fahnen geschrieben. Die Initiatoren, die zum Großteil aus der APO-Bewegung und der Hausbesetzerszene stammten, wollten den „staatlich verordneten Geschichtsbildern wie Preußens Gloria“ Alternativen entgegensetzen: Geschichte von unten, zum anfassen und erleben.

Das hat die Werkstatt in den letzten 20 Jahren mit Ausstellungen, Dampferfahrten, Buchprojekten und einer Vielzahl anderer Veranstaltungen verwirklicht. Sie folgte dabei oft dem aus Schweden stammenden Vorbild der „Oral History“, der mündlichen Überlieferung von Geschichte. Die Befragung von Zeitzeugen hatte sich in den Achtzigerjahren an den Universitäten noch nicht durchgesetzt. Die Werkstatt hatte daher großen Zulauf von jungen Leuten, Geschichtsstudenten und anderen historisch Interessierten.

Was beispielsweise auf der „Roten Insel“ in diesem Jahrhundert geschah, stand in keinem Geschichtsbuch. 1983, 50 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis in Berlin, machten sich die Werkstatt-Mitarbeiter auf, um in Schöneberg zwischen den zwei S-Bahn-Strängen südlich der Yorckstraße Zeitzeugen zu befragen. So betrieben sie „Spurensicherung“ des Alltags und der Widerstandsbewegungen in dem hauptsächlich von Arbeitern bewohnten Viertel. In den folgenden Jahren weiteten sie ihre Forschung weiter aus. In einem ehemaligen Pferdebahnhof machten die Projektmitarbeiter 1987 eine Ausstellung „Bruchstücke der Stadtgeschichte“ über die alltäglichen Lebensbedingungen zur Jahrhundertwende. „Es kommen heute noch Leute und fordern den Prospekt“, erzählt Vorstandsmitglied Jürgen Karwelat.

Das Interesse der Werkstatt-Mitarbeiter galt jedoch hauptsächlich dem Widerstand unter Hitler. „Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist und bleibt eine durchgehende Linie in unserer Arbeit“, berichtet Gisela Wenzel, die von Anfang an dabei ist. Als Alt-68er hätten sie immer an die Widerstands- und auch Arbeiterbewegung anknüpfen wollen. „Wir erhofften uns von diesem Teil der Geschichte immer eine Inspiration für unsere eigenen Aktionen.“

Die Werkstatt-Betreiber selbst wollen „Stolpersteine“ sein, wie es der langjährige Mitarbeiter Bernhard Müller nennt. „Wir wollen manchmal durchaus provozieren.“ Mit einem doppelstöckigen, ausrangierten BVG-Bus stellten sie sich Ende der Achtzigerjahre immer dort hin, wo was los war: In Tempelhof mischten sie bei einer Auseinandersetzung um Straßennamen mit. Die Fotoausstellung „Von Krenz zu Kohl“ im Bus dokumentierte 1990 auf dem Alexanderplatz und dem Kurfürstendamm die Wende in der DDR. Seit dem Mauerfall führen die historischen Dampfertouren, die die Werkstatt seit 1984 organisiert, auch durch die neue Mitte.

Nach der Wende hat sich die Werkstatt eines weiteren Themas angenommen, das von der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht mehr zu trennen ist. In Niederschöneweide wurde 1994 ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager entdeckt. Ein Jahr später machten die Projektmitarbeiter dort eine Open-Air-Ausstellung zum Thema Zwangsarbeit in Berlin. Aus über 500 Briefen und Fotos von ehemaligen Zwangsarbeitern stellten sie die Broschüre „Totaleinsatz“ zusammen. In die Debatte um die Entschädigung mischte sich die Geschichtswerkstatt im vergangenen Jahr ein, indem sie eine Liste von 79 Berliner Unternehmen veröffentlichte, die Zwangsarbeiter beschäftigten.

Inzwischen hat sich die in Deutschland anfangs einzigartige „Oral History“-Methode der Werkstatt an den Universitäten zu einer eigenen Theorie entwickelt. Und das Konzept „Geschichte zum Anfassen“ stellt bei den Museen schon lange keine Ausnahme mehr dar. „Ein großer Erfolg für uns, wir haben sicherlich dazu beigetragen, dass diese Art der Geschichtsforschung Eingang gefunden hat in die Institutionen“, meint Jürgen Karwelat. Doch ebendieser Erfolg wird der Geschichtswerkstatt in gewisser Weise zum Verhängnis: Wer sich für „Oral History“ interessiert, ist nicht mehr nur auf die Geschichtswerkstatt angewiesen. Damit wird es schwieriger, Nachwuchs zu finden.

Das Team der Werkstatt altert mit seinen Begründern. Am besten sei es dem Projekt Ende der Achtzigerjahre gegangen, erzählt Karwelat. 150 ehrenamtliche Mitarbeiter hatten sie zu dieser Zeit, auch Geld gab es in der Inselstadt Berlin noch genug. Doch zwanzig Jahre später hat sich die Mitgliederzahl halbiert. „Das politische Engagement allgemein hat nachgelassen, heute zählt mehr der Individualismus“, beklagt Jürgen Karwelat.

Resignation ist aber nicht angesagt. Jürgen Karwelat plant neue Projekte. „Mit der Wende hat sich uns ein ganz neues Feld eröffnet. Im Ost-West-Vergleich ist noch jede Menge zu forschen.“ Heute feiert das Team erst mal seinen Geburtstag: mit einer Party von 15 bis 22 Uhr in der Kiez-Oase Schöneberg wenige Minuten von der Geschichtswerkstatt in der Goltzstraße entfernt. Am Sonntag um 15 Uhr ist dann wieder der „Litera-Tour“-Dampfer unterwegs und bringt den Passagieren mit Marlene Dietrich und Kurt Tucholsky die Stadt ein Stückchen näher. ANTJE LANG-LENDORFF