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: HELMUT HÖGE über Stadttiere

Multikulturelle Mäuse

Zuerst wurden durch bauliche Verdichtung die Tiere aus der Stadt gedrängt, dann wagten sie sich jedoch zurück und fanden komfortable Nischen: das reicht vom Kfz-Kabelsalat fressenden Marder über die fast zahmen Füchse im Botanischen Garten und die aufdringlichen Wildschweine an der Havelchaussee – bis zum Jogger attackierenden Bussard im Tegeler Forst und der Nachtigall im Finanzamt.

Nun geht es diesen urbanen Wildtieren aber erneut an den Kragen. Absurderweise diesmal nicht aus Ignoranz, sondern aus Tierhaltungsliebe. Die Enten im Tiergarten werden zum Beispiel mehr und mehr von Mandarin- und Eiderenten, die sich wahrscheinlich aus den zoologischen Gärten davongeschlichen haben, verdrängt.

Auf einigen Rieselfeldern haben Wellensittich-Schwärme sich gegen die Spatzen durchsetzen können. Und auf dem S-Bahn-Gelände zwischen Wedding und Prenzlauer Berg sieht man schon mehr bunte Haus- oder Zwergkaninchen als Wildkaninchen. Sogar auf dem Gelände des am 1. Mai 1987 abgebrannten Kreuzberger Bolle-Supermarktes am Görlitzer Bahnhof haben die süddeutschen Labormäuse zusammen mit den mongolischen Springmäusen die einheimischen grauen Mäuse nahezu vollständig vertrieben.

Darüber berichtete ich bereits vor Jahr und Tag. Wie jedoch erst jetzt bekannt wurde, liegt das vor allem daran, dass die umliegenden Wohnungsmieter – bis hinauf in den dritten Stock, die von den grauen Mäusen besonders im Winter massenhaft heimgesucht wurden und werden, irgendwann dazu übergegangen waren, die immer wieder in ihre Lebendfallen reintappernden Nager möglichst weit weg – am Ende des Görlitzer Parks zum Beispiel oder am Ufer des Landwehrkanals – zu entsorgen, das heißt in ihre wohlverdiente Freiheit zu entlassen.

Davor hatten sie diese possierlich aussehenden kleinen Schädlinge lange Zeit auf dem Bolle-Gelände ausgesetzt. Von dort fanden die Tiere jedoch schneller wieder in die Wohnküchen zurück als die Menschen. Im Gegensatz zu all den von ihnen ebenfalls dort ausgesetzten edlen Ziermäusen und Laborratten.

Was diese stattdessen taten, ist bis heute ungeklärt. Auf alle Fälle behaupteten diese Exoten sich – quasi im Vorgartenbereich. Zumal ihre wilden Verwandten immer nur an ihnen vorbei in die Häuser nach oben stürmten – spätestens wenn die Herbstregentage einsetzten.

Bei den ausgesetzten zahmen Kaninchen kann man den Prozess genauer nachvollziehen – an dessen Ende die letzten wilden die Stadt verlassen haben werden: Überall kaufen die Mütter ihren Kindern ein Zwergkaninchen. Dieses dämmert bald auf dem Balkon vor sich hin. Dann kauft eine Mutter (im Wedding) ein zweites Kaninchen – und als die beiden Junge kriegen, überlässt sie ihnen den ganzen Balkon, den ihre Tochter zu einer wahren Kaninchenburg ausbaut.

Schnell kommt es zu einer „unkontrollierten Vermehrung“, wie die Hausverwaltung bemängelt. Allein im Zeitraum von Oktober bis April wächst die Nagerschar auf 34 Tiere an. Schon nehmen die umliegenden Zoohandlungen keine mehr auf, und auch die Kinderbauernhöfe winken alle ab. Also verschenkt ihre Tochter fortan die Kaninchen in der Kita – vorwiegend an solche Kinder, die zu Hause auf dem Balkon schon eins haben: „Das ist dann nicht so allein!“ Schnell wird aus dem niedlichen Geschenk eine wahre Zwergkaninchen-Schwemme – und die wird nun regelmäßig durch Aussetzen wieder abgebaut.

Die Theorie geht dahin, dass sie den wilden Kaninchen draußen deswegen überlegen sind, weil sie robuster sind. Die Wildkarnickel haben schließlich bereits die Kitakinder überlebt, und selbst Blitzstarts auf Dreirädern und tägliche Shampoobäder mit Apfelgeschmack sind scheinbar spurlos an ihnen vorübergegangen.