„Deutschland hat die Bringschuld“

Das Bildungssystem muss interkulturell werden, wenn Deutschland fit für die Einwanderung werden will, meinten Experten bei einer Anhörung des Bildungsministeriums. Doch Hans Eichel will erst mal die Sprachkurse für Zuwanderer eindampfen

von STEPHANIE VON OPPEN

Deutschland steht vor einer Revolution. So sollte es zumindest nach Ansicht der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck sein, wenn es den Deutschen ernst ist mit der Absicht, sich zu einem Einwanderungsland zu mausern. Bei einer Anhörung zur Qualifizierung von Migranten und Migrantinnen kündigte sie am Freitag an, dass eine „revolutionäre Veränderung“ vonnöten sei.

Während der Veranstaltung des beim Bundesbildungsministerium angesiedelten „Forums Bildung“ forderten Experten einen umfassenden Strukturwandel im Bildungssystem. Von der Kindertagesstätte bis hin zum Berufseinstieg sollen die Bildungsinstitutionen zugunsten von Migranten umgestaltet werden. Dazu gehöre auch ein radikaler Perspektivwechel, betonten die Experten.

So soll Zweisprachigkeit von Kindesbeinen an nicht länger als Problem, sondern als Begabung betrachtet und entsprechend gefördert werden. Auch der jeweilige kulturelle Hintergrund müsse bei Kindergärten und Schulen stärker in die Curricula einfließen. „Spätestens die Grundschule treibt den Kindern ihre Interkulturalität aus“, kritisierte Ingrid Gogolin vom Institut für internationale und interkulturelle Erziehungswissenschaften Hamburg. So sei es dringend an der Zeit, in der Lehrerausbildung interkulturelles Lernen als Pflichtfach einzuführen.

Marieluise Beck sprach von einer „Bringschuld“ gegenüber Einwanderern. Nicht bei ihnen seien die Defizite zu suchen, sondern auf der Seite der deutschen Gesellschaft. Einen ähnlichen Ton schlug Rita Süssmuth, die Vorsitzende der Einwanderungskommission an. Sie richtete ihr Augenmerk besonders auf die hohe Zahl Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die ohne Schulabschluss bleiben. Für diesen Missstand macht sie das deutsche Schulwesen verantwortlich, das auch ihrer Ansicht nach einer „radikalen Änderung“ bedürfe. Veränderung solle aber nicht auf Kosten anderer Errungenschaften im Bildungswesen gehen, mahnte Frank-Olaf Radtke vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt. Vielmehr plädiere er für eine „Expansion“, so wie sie stattgefunden habe, als der Bildungszugang für Mädchen verbessert wurde.

Während man im Bildungsministerium noch an Visionen bastelte, war aus dem Finanzministerium zu vernehmen, dass Minister Hans Eichel im Haushalt 2002 die Mittel für die Sprachförderung von Zuwanderern einzufrieren gedenkt. Vor dem Hintergrund, dass die Honorare für Sprachlehrer kürzlich gestiegen sind, müssten unter diesen Umständen die Sprachkurse für Zuwanderer reduziert werden.

Im Büro der Ausländerbeauftragten will man diese Ankündigung aber nicht überbewerten. Bernd Knopf, Sprecher der Beauftragten, erläuterte, man arbeite gerade an einer Neustrukturierung des Sprachenangebots für Zuwanderer. Derzeit sind 320 Millionen Mark für die Sprachförderung von Zuwanderern vorgesehen. Davon fließt der überwiegende Teil in die Sprachkurse für Aussiedler und Asylberechtigte. Die restlichen 34 Millionen Mark werden in Sprachkurse für Arbeitnehmer aus früheren Anwerbeländern, Migranten aus EU-Ländern und ehemalige DDR-Vertragsarbeiter gesteckt. Ein Flüchtling, dem nur für eine begrenzte Zeit Asyl gewährt wurde, hat hingegen ebenso wenig Anspruch auf Sprachunterricht wie Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern. Die Sprachförderung müsse vollkommen neu organisiert werden, so Knopf, erst dann könne man ernsthaft über die Finanzierung verhandeln.

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