Zur moralischen Instanz gereift

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, erhielt gestern im Rahmen des CSD einen Preis für Zivilcourage

Wie die beiden anderen monotheistischen Religionen, das Christentum und der Islam, tut sich auch das Judentum nicht leicht mit dem Phänomen der Homosexualität. „Du sollst nicht mit einem Mann schlafen wie mit einer Frau; ein Gräuel ist das“, heißt es im 3. Buch Mose (18, 22). Gestern Nachmittag wurde gleichwohl in Berlin der höchste Repräsentant der politischen Vertretung des Judentums in der Bundesrepublik vom Homosexuellen-Verein „Christopher-Street-Day“ geehrt: Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, erhielt einen erstmals vergebenen Preis – für seine Zivilcourage im Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Spiegel wurde vor allem für seine Worte auf der „Anständigen“-Demonstration am 9. November vergangenen Jahres in Berlin geehrt – eine Rede, die den bis dahin im Vergleich zu seinem Vorgänger Ignatz Bubis eher blass agierenden Chef einer internationalen Künstleragentur in Düsseldorf scharfe Konturen gab. Geradezu umjubelt waren seine Sätze: „Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten? [...] Meine Damen und Herren Politiker: Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln.“ Mit eiserner Miene mussten die CDU/CSU-Spitzenpolitiker diesen Rüffel für eine Debatte ertragen, mit der sie Beifall am braunen Rand erhalten hatten.

„Einige Nackenschläge“ habe er seitdem einstecken müssen, sagt Spiegel, wenn er heute an die Rede und die Reaktionen konservativer Politiker darauf zurückdenkt. Da sei es doch angenehm, wenn man dafür auch einmal gelobt werde, erklärt der 63-Jährige mit Blick auf den CSD-Preis der taz. Offenbar seien seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen. Er habe keinen Moment gezögert, die Ehrung anzunehmen. Schließlich wende er sich immer dagegen, wenn Minderheiten nicht wie die Mehrheit behandelt oder gar bedroht würden – seien es Obdachlose, Ausländer und Mitglieder von zahlenmäßig kleinen Religionen.

Schon im vergangenen Jahr hatte Spiegel die Forderung von Schwulen- und Lesbenverbänden unterstützt, in Berlin ein Mahnmal für die ermordeten Homosexuellen zu errichten. Sie gehörten zu den Opfern des NS-Regimes, sagte er. Ihnen sei enormes Leid zugefügt worden. Die Homosexuellen hätten deshalb einen legitimen Anspruch auf eine Gedenkstätte. Spiegel forderte die deutsche Bevölkerung auf, „sehr ernsthaft darüber nachzudenken“. Er könne „die Forderung nur ausdrücklich unterstützen“, sagte Spiegel. In der NS-Zeit litten 10.000 bis 15.000 Homosexuelle in KZs.

Spiegels Vater überlebte drei Konzentrationslager. Seine Schwester wurde von den Nazis ermordert, er selbst konnte vor ihnen versteckt werden. Lange hat sich Spiegel dagegen gesträubt, wie Bubis nur noch als „moralische Instanz“ wahrgenommen zu werden, der alles und jeden kommentieren sollte. Er wollte sich auf die großen Reformaufgaben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft konzentrieren. Doch es ist anders gekommen – und das ist auch gut so.

PHILIPP GESSLER