america: augenlicht und schatten von IRA STRÜBEL
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Amerikaner sind komisch. Sie lieben Baseball. Sie essen Portionen, die hierzulande als Familienteller durchgehen. Sie jammern, wenn der Benzinpreis über eine Mark steigt, und verwechseln Home Decoration mit Tortenverzierung. Sie haben George W. Bush gewählt.

Ganz offensichtlich also stimmt etwas nicht mit den Amerikanern. Das wusste ich schon vor dem ersten Bodenkontakt. Ewig nach Wissen strebend, verspürte ich aber den Drang, vor Ort herauszufinden, was denn da los sei. Und war bestürzt, dass die Welt das Rätsel nicht schon früher gelöst hatte.

Jedes Volk hat die Hymne, die es verdient: Wir wollen glänzendes Glück und ein blühendes Vaterland, deshalb war auch Kohls Landschaften-Versprechen so siegreich. Die Franzosen wollen ihre Felder mit dem Blut der Feinde düngen, das kennt man ja, die Bauern dort sind einfach radikaler. Und die Amerikaner? Die wollen einfach nur sehen.

Oh say can you see? fragt die Hymne, und das, wo doch schon die frühe Morgendämmerung herrscht (by the dawn’s early light). Dringt man weiter in den Text, erweist sich das Loblied als gesungene Braille-Schrift, als hymnische Untertitel zum Weltgeschehen: whose broad stripes and bright stars, wird da das Sternenbanner beschrieben. Das ist etwa so, als käme die deutsche Hymne in Zeile zwei auf „drei circa gleich breite Streifen in stark kontrastierenden Farben“ zu sprechen.

Die visuelle Herausgefordertheit der Amerikaner aber hat noch spektakulärere Ausmaße: Wie die Hymne verrät, braucht es schon den Schein von Raketen und explodierenden Bomben (And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air), um zu beweisen, dass die Flagge noch nicht gemopst wurde (Gave proof thro’ the night that our flag was still there) – stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten auf dem Küchenboden einen Scheiterhaufen entzünden, nur um in dessen Lichtschein herauszufinden, ob Ihr Sahnejoghurt noch im Kühlschrank steht! Arme Amerikaner! Denn selbst nach Einsatz solcher Leuchtmittel bestehen noch Zweifel: O say, does the star-spangled banner yet wave?, fragt die Hymne bang. „Ja, gehen Sie doch nachschauen!“, möchte man rufen. Aber offensichtlich geht das nicht – die Augen versagen den Dienst, der Amerikaner bleibt im Dunkeln.

Nach dieser Erkenntnis, die mich in einem Baseballstadion ereilte, ward mir plötzlich ganz milde ums Herz.

Und auch anderntags, wieder nüchtern, war ich willens, sämtlichen 200-Dollar-Hotels die kackbraunen Teppichböden nachzusehen. Ich verstand, warum wir in einer peinlichen Stretch-Limo vom Flughafen abgeholt wurden und warum mein Geschäftspartner gekleidet war wie Ike aus „Die Waltons“. Ich sah ein, dass alle Eigenheime mit Troddeln, Spitzen und anderem haptisch interessanten Tand versehen waren. Und ich begann, an Amerika als einen großen, knuffigen Bruder zu denken, der sich doch ganz wacker, wenn auch ein wenig hilflos, durchs Leben schlägt. „Ja“, dachte ich, und tätschelte die Scholle Wisconsins, „home of the brave“. Barmherzig flog ich anderntags nach Hause.