DIE EIGENTLICHEN WAHLSIEGER IN SACHSEN SIND BASISINITIATIVEN
: Stimmung wie im Herbst 89

Das spontane Straßenfest vor Ingolf Roßbergs Wahlkampfbüro in Dresden erinnerte an den Geist vom Herbst 1989. Passanten, Bürgerinitiativler, Kulturleute und Vereinsmeier, straffe Parteigänger und sogar lose Unionsfreunde feierten bei Freibier. Nur galt der Jubel diesmal nicht dem Untergang des SED-Regimes, sondern jenem der CDU Dresden. „Nu gugge ma, ’s gäht doch!“, hatte ein SPD-Wahlplakat treffend wie kein zweites die Stimmung erfasst.

An die Wende 1989 erinnert auch, dass es wieder ein breites parteiübergreifendes Bündnis war, das zum politischen Wechsel führte – doch diesmal traf es mit Herbert Wagner jemanden, der längst selbst zu einem Helden der Herbstdemonstrationen hochstilisiert worden ist. Zuletzt jedoch erschien er den Dresdnern als überforderter Autokrat – und Marionette Biedenkopfs.

Vermutlich hätten es die Oppositionsparteien, wie schon 1994, wieder einmal nicht geschafft, sich hinter einem Alternativkandidaten zu versammeln, wäre nicht am Ende des Winters eine Bürgerinitiative aufgetaucht. Interessanterweise wurde sie überwiegend von zugereisten und engagierten Neudresdnern angeschoben. Diese Bürgerinitiative ist die eigentliche Wahlsiegerin – und mit ihr das Verlangen der Bürger, politisch beteiligt zu werden. Angesichts erstarrter Parteirituale in ganz Deutschland könnte dies ein überregionales Zeichen setzen, wie es der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee auch schon prophezeite. Die Siege zweier von Wählerinitiativen nominierter Landräte in Sachsen sprechen ebenfalls dafür. Es waren übrigens auch achtbare Mittelständler, die auf das anfangs sehr schmale Dresdner Bürgerbewegungskonto gespendet haben. Insofern brechen Fronten auf.

Es darf bezweifelt werden, ob der Übermensch Kurt Biedenkopf nun lernt, dass auch er und die CDU eines Tages ersetzbar sein könnten, ohne dass in Sachsen Anarchie, Chaos oder die kommunistische Weltrevolution ausbrechen würden. Diese Panikmache war wesentlicher Inhalt des CDU-Wahlkampfes und verwies mehr auf die Agonie des Systems Biedenkopf als auf die Schwächen des Gegners. Noch kann man spekulieren, ob die Wahlniederlagen die Quittung dafür waren oder ob mancherorts aus demokratiehygienischen Gründen die Wähler einen Wechsel wünschten.

In Sachsen herrschen nun bayerische Verhältnisse. Auf dem flachen Land brave Unionswähler – und in den Städten aufgeklärte Mitte-Linkser, die hoffen, dass die absolute Unionsmehrheit anders als in Bayern nicht doch noch als Gewohnheitsrechtsartikel in die Landesverfassung geschrieben wird. MICHAEL BARTSCH