Klein-Salzburg im Schlachthof

■ „explosive“-Festival im Schlachthof: Das Publikum ist schlauer als der Kritiker

Sicher, man könnte auf dies und jenes hinweisen, könnte kritisieren, maulen, dass dies eben doch nicht „richtiges“ Theater sei oder sich halbherzig mit Etikettchen wie „rührend“ oder „nett“ behelfen.

Doch wozu? Ich finde es einfach gut, dass junge Leute aus diversen Städten und Ländern Theater spielen, es selbst hervorbringen. Und dass man ihnen die Möglichkeit gibt, einander zu treffen, sich über Motivationen und Methoden auszutauschen – oder schlicht zu feiern. Euphorische Atmosphäre, die ansteckt. Niemand will hier zu den Salzburger Festspielen. Und doch spielen sich in Foyer und Garten des Schlachthof Klassiker des Akteurshabitus ab: Man ist abgeklärt oder laut, man spuckt über Schultern oder umarmt einander. Rührend ist das (nun sag ich's doch ...) – und wichtig. Es wird gelacht, gefiebert und geklatscht. Und es fällt schwer, über qualitative Unterschiede, über dramaturgische Geschlossenheit und schauspielerische Perfektion zu urteilen.

Auch wenn sich Unterschiede in der Zusammenschau aufdrängen. Das Publikum ist schlauer als der Kritiker: Weil es unmittelbar reagiert und weil die Chemie stimmt, irgendwie, unerklärlich. Denn stets sind am Ende die Zuneigungsbekundungen mehr als reine Sympathiepunkte.

Die augenfälligsten Unterschiede zu den Produktionen aus Utrecht und Chicago (siehe taz vom 25. Juni): In „Hartcore“ des „Jongeren Theater Alkmaar“ und „In Teufels Küche“ der schlachthofeigenen „Dritten Ebene“ sind erstens viel mehr SchauspielerInnen auf der Bühne und zweitens gehen beide Aufführungen von alten Bildern und Geschichten aus. Gesellschaftliche Struktur versus Griff ins kulturelle Archiv, sozusagen. Beides findet sich in der Gegenwart, beides ist gewissermaßen dekonstruktivistisch in der Blickrichtung und eine Mixtur in der Form.

Die Alkmaarer Bühne ist mit Zeichen voll. Zeichen der Liebe. Rote Herzchen auf dem Teppich, Rosen umranken kranzartig den Durchgang im Hintergrund-Herzkranzgefäß. Als Revue hangelt sich „Hartcore“ an heutigen Zugängen zum antiken Mythos von Orpheus und Eurydike entlang. Moderiert von zwei jungen Damen in pastellgrünen Lackkleidern, als Rest des griechischen Chors mit je einem Mikrofon. Sie kommentieren, scheinen das Verhältnis von Ruhe und Bewegung zu bestimmen. Etwa wenn sie laut zum Telefon rufen, alle auf die Bühne gestürzt kommen. Das Telefongespräch Katalysator verschiedener Zustände im Kräftefeld von Sehnsucht, Coolness, Begehren und Erotik. Da ist einer, der ungerührt zwischen zwei Frauen steht und sich mit beiden (beinahe) für den gleichen Abend verabredet. Das andere Ende der Fahnenstange: Eine rotgekleidete Schwarzhaarige, die nach dem Klingeln über „Hallo?!“ nicht rauskommt. Das Freizeichen schreit mich an! Zusammengehalten wird die Szenenfolge um Unsicherheit und Selbstgerechtigkeit, die leider zu selten auch Nichtheterokonstellationen mit hinein- nimmt, von der mythischen Essenz: Hat sie ihn genötigt, sich umzuschauen, obwohl sie wusste, dass er nicht durfte, oder konnte er es selbst nicht mehr aushalten? Gegen Ende streiten sich die göttlichen Botinnen. Entscheiden werden auch sie's nicht.

Die „Dritte Ebene“ präsentierte zum ersten Mal „In Teufels Küche“, ein diabolisches Dinner über's Noch-Mädchen-und-Doch-schon-Frau-Sein, schön blasphemisch um die Szenerie des letzten Abendmahl Jesu herumgebaut. Eine lange Tafel, eine Menge Schauspielerinnen und nicht minder viele gute kleine Einfälle. Weniger noch als im Vorgängerstück steht der Text im Vordergrund. Hier ist es der Raum, der auch symbolisch erobert sein will. Der trägt illustre Namen wie erwachsen, weiblich, Ich. Zwischen Zusammenhalt und Eifersucht, zwischen Konkurrenz und Gemeinschaftsgefühl pendeln die locker zusammen- gefügten Bilder. Ebenfalls in Rot. Bis diejenige, die als Anderes, als Fremdes oder auch als begehrtes Eigenes auf einem Sofa an der Seite verharrte (oder ist's die Teuflin gar selbst?) am Schluss, ins Brautkleid gewandet, gemeinschaftlich verspeist wird.

Ausgelassenheit an allen vier Abenden, eine Vielzahl ungewohnter Zugänge und Bilder. Bis dato ein gelungenes „explosive!“ Der Rest ist Schmatzen.

Tim Schomacker