Mond am Fallschirn

Alternative Sprech- und Denkmöglichkeiten eröffnet: der chinesische Dissident und Dichter Bei Dao, heute im Literaturhaus  ■ Von Petra Schellen

Geldinflation ist nichts dagegen: „Fast jeder hat Steine in meinen Traum geworfen“, hat die Träume gestört und ihnen ihre Tiefe geraubt: Es ist nicht nur poetologisch gemeint, was der chinesische Autor Bei Dao, heute im Literaturhaus zu Gast, in seine Gedichte fügt: Als Rotgardist und „staatlich sanktionierter Bücherdieb“, wie er es später nannte, hat er als Jugendlicher Maos Ideologie mit durchsetzen wollen. „Als ich dann als Bauarbeiter aufs Land geschickt wurde und die erbärmlichen Lebensbedingungen sah, habe ich jede Illusion verloren.“

Heimlich zu lesen und zu schreiben habe er damals begonnen, sagt der 1949 in Beijing geborene Autor, der sich früh gegen die Infiltration der Gedanken durch kommunistische Sprachregelungen wehrte; als „Schattendichtung“ wurde die Lyrik des Autors, der 1978-80 die oppositionelle Zeitschrift Jintian (Heute) herausgab, bezeichnet. Voller unkonventioneller Bilder und Assoziationen sind seine Gedichte, „und das war es auch, was die Menschen so stark bewegte, dass sie Schlange standen, um Kopien unserer Zeitschrift zu kaufen“.

Dabei ist Bei Dao keiner, der sich als irgendjemandes Sprachrohr versteht: „Opposition ist zu bestimmten Zeiten in denselben Propagandamechanismen gefangen, wie die, gegen die sie sich wendet“, betont der Lyriker, dessen Gedichte in 25 Sprachen übersetzt sind und der inzwischen in den USA lebt. „Außerdem ist Lyrik immer etwas Privates, das die Welt nicht im Geringsten ändern kann.“

Allenfalls das Lebensgefühl beeinflussen, neue Wahrnehmungshorizonte eröffnen können seine Gedichte, die nicht nur 1978 die demokratische Bewegung prägten, sondern die auch, so Bei Dao, „viele Menschen zur Lektüre verleiteten. Sie erkannten wohl, dass ihnen diese Sprache neue Möglichkeiten des Selbstausdrucks eröffnete“, vermutet Bei Dao, dessen Gedicht Notausgang aus dem jüngst edierten zweiten deutschen Gedichtband Post Bellum genau dies thematisiert: Als Fallschirm benutzt der Mond darin den Himmel, rechtzeitig zu schaffen versucht er (oder der Protagonist?) den Sprung durch die Tür – und kommt doch zu spät: Als er am Notausgang ankommt, ist sein Visum längst abgelaufen. Ein subtiler Hinweis auf die Tatsache, dass der 1989 ausgebürgerte Bei Dao – anders als etliche andere Dissidenten – seine Heimat seither nicht mehr betreten durfte?

Unter großen Risiken haben Bei Dao und seine Freunde während der Kulturrevolution und in den folgenden Jahren heimlich geschrieben und in der Zeitung Jintian Texte auch derer veröffentlicht, die offiziell nicht publizieren durften. Der Name „Bei Dao“ („Insel im Norden“) ist übrigens nur das Pseudonym für Zhao Zhenkai, das „eher zufällig entstand, als wir im Freundeskreis überlegten, unter welchen Decknamen wir produzieren könnten“, berichtet der Autor.

Warum er 1989 – er weilte gerade als DAAD-Stipendiat in Berlin, wo er die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung im Fernsehen verfolgte –, aus China ausgebürgert wurde? „Schwer zu sagen, was die Machthaber damals dachten. Ich vermute, dass sie eine Verbindung zwischen unseren 1978er Veröffentlichungen und den Ereignissen von 1989 gesehen haben. Außerdem haben sich einige Oppositionelle zu meinen Gedichten bekannt“, sagt Bei Dao, der nach 1989 in Skandinavien und Großbritannien lebte, bevor er in die USA ging, wo er in den letzten Jahren eine Gastdozentur für chinesische Literatur wahrnahm. Und wenn sich der immer wieder als Literaturnobelpreis-Anwärter gehandelte Bei Dao auch gegen den Verdacht wehrt, im Exil von der chinesischen Sprache abgeschnitten zu sein: Nach China zurückkehren würde er jederzeit, „zu meinen persönlichen Wurzeln, und das meine ich wörtlich. Die Wiederbesinnung auf das Individuelle war nach der Kulturrevolution schließlich die wichtigste Herausforderung für die chinesische Gesellschaft“.

Von der Vergangenheit, von zu Zement gewordener Erinnerung sprechen auch seine Gedichte, die mal alogischen Koans mit Celan-Reminiszenz, mal Elegien ähneln. „Die Stunden fallen ins Wasser / sie explodieren nach Art von Untiefen / Traum für Traum“, heißt es in einem Text, der zum Zerplatzen gefüllte Erinnerungsmoleküle beschwört, die auch deshalb unter Spannung stehten, weil der Exilierte gegen seinen Willen keinen Anschluss an in China erfahrene Alltagsrealität findet. Und nur Träume bieten Zuflucht vor dem teils einsamen Alltag des Exilierten, der nicht nur lakonisch über sich selber redet („Ich habe es zu was gebracht, ich bin sublimiert“), sondern der auchmal Weißdorn verstohlen kichern lässt – da, wo es weder kommunistische noch neoliberale Ideologen hören können.

Bei Dao: Post Bellum. Gedichte. München 2001, 87 S., 28 Mark.

Lesung heute, Donnerstag, 20 Uhr, Literaturhaus