zoologie der sportlerarten (33)
: PROF. HIRSCH-WURZ über Wimbledon

Erdbeeren mit Pimm’s

Der Homo wimbeldonicus ist nachweislich eine der am seltensten anzutreffenden Sportlerarten der Welt. Er zeigt sich überhaupt nur zwei Wochen im Jahr, den Rest verbringt er in einem ausgiebigen Winterschlaf. Besser gesagt, ein Dreieinhalbjahreszeitenschlaf, der sich über Herbst, Winter, Frühjahr und Teile des Sommers erstreckt, sofern man im Zusammenhang mit London von Sommer sprechen kann. Wenn sich der Homo wimbeldonicus schließlich zu erheben geruht, verfügt er über glänzende Laune, was ja auch kein Wunder ist bei so viel Ausgeschlafenheit. Frohgemut begibt er sich nun zum alljährlichen Versammlungsplatz im Südwesten Londons.

Was den meisten Tierarten die Tränke, ist dieser Sportlerart ein kleines Gelände an der Church Road im Stadtteil Wimbledon. Da verbringt er dann, beängstigend zusammengepfercht mit ungefähr 35.000 Artgenossen, seine Tage und manch einer sogar die Nächte, in Zelten und Schlafsäcken draußen auf der Straße, damit er am nächsten Morgen auch ja wieder Einlass finde ins Allerheiligste. Wissenschaftler unterscheiden zwischen dem Homo wimbeldonicus passivus und den Homo wimbeldonicus activus, wobei Letzterer hoffnungslos in der Unterzahl ist. Dafür muss er viel mehr rennen. Beide Gruppen verfügen über Angehörige beider Geschlechter, Kinder kommen beim Activus jedoch nicht vor, es sei denn halbe.

Erstmals beobachtet und beschrieben wurde der Homo wimbeldonicus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verstanden wurde er bis heute nicht. Das Hauptnahrungsmittel des Passivus sind geschmacklose, leuchtend rot gefärbte Gebilde von der Größe einer Kinderfaust, die mysteriöserweise Erdbeeren genannt werden, überschüttet mit einer weißen geschmacklosen Paste, die ominöserweise Sahne genannt wird. Das Hauptnahrungsmittel des Activus ist Broccoli mit Käsesoße.

Reicht dem Passivus seine tägliche Erdbeer-Ration nicht aus, verleibt er sich verkohlte wurstähnliche Gebilde ein, die er Dutchees nennt und die verschärft nach Holzkohle schmecken, neuerdings aber auch Pizzastücke und belegte Baguettes, was in zweierlei Hinsicht merkwürdig ist. Erstens: Sie schmecken nach etwas. Zweitens: Sie sind völlig unbritisch. Ein Stilbruch, den man vom Homo wimbeldonicus eigentlich nicht erwartet, und der ähnlich unerhört ist, als würde man bei den French Open, wo der Homo rolandgarrosiensis zu Hause ist, Plumpudding und Kidney Pies servieren.

Obwohl er gar nicht rennt, pflegt der Homo wimbeldonicus passivus erheblich mehr zu trinken als sein aktiver Artgenosse. Dabei bevorzugt er den Genuss einer verdächtigen Brühe namens Pimm’s, die gar nicht so übel schmeckt, wie sie heißt, und besonders an sonnigen Tagen eine überaus berauschende Wirkung entfaltet. Diese ermöglicht es dem Passivus, auch längere Regenzeiten ohne nachhaltige psychische Folgen zu überstehen und selbst stundenlanges Ballgeklopfe, identitätsstiftendes Hauptritual der Spezies, mit stoischer Ruhe zu ertragen.

Für den reibungslosen Ablauf der jährlichen Jahreshauptversammlung des Homo wimbeldonicus sorgen uniformierte würdige Gestalten, die überall im Weg herumstehen, auf charmante Weise Zugänge versperren und unsinnige Anweisungen erteilen, zum Beispiel, dass man auf einem etwa zwanzig Meter breiten, völlig leeren Weg ganz links zu gehen habe. Der Homo wimbeldonicus hält sich mit großer Begeisterung an derartige Befehle und ist zudem ein derart überzeugter Monarchist, dass er all dem adligen Gesocks, dass sich unter dem Vorwand, ebenfalls zur Spezies zu gehören, Einlass zum Wimbeldonicus-Konvent verschafft und umstandslos die besten Plätze okkupiert, mit ehrfürchtiger Sympathie begegnet.

Die große Stunde des Homo wimbeldonicus passivus schlägt, wenn anhaltender Regen einsetzt. Dann kann er endlich zeigen, wie ausgeschlafen und wohlgelaunt er ist, harrt schirmbewehrt und fröhlich auf seinem Platz am Centre Court aus, vollführt eine La Ola nach der anderen und lässt sich, wenn es ganz schlimm kommt, live von Cliff Richard beschallen. Besonders beliebt ist der Intervallregen, der immer dann einsetzt, wenn der Platz gerade so weit hergerichtet ist, dass die diensthabenden Exemplare des Activus zurückkehren. Getrübt wird das Vergnügen lediglich durch die stetige Dezimierung der aktiven Mitglieder der Spezies, die schließlich auch zum vorübergehenden Aussterben des Homo wimbeldonicus bzw. seine umgehende Einmottung bis zum folgenden Jahr führt.

Wissenschaftliche Mitarbeit:

MATTI LIESKE

Fotohinweis:H. Hirsch-Wurz, 92, ist ordentlicher Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen.