Wenig Chancen für Gefühl

Ausgerechnet das kleine Belgien schickt sich mit seinen Top-Ten-Spielerinnen Kim Clijsters und Justine Henin an, der schlagstarken US-amerikanischen Vormacht im Frauentennis auf die Pelle zu rücken

aus Wimbledon MATTI LIESKE

Schwer leiden Britanniens Reporter unter der Abwesenheit von Anna Kurnikowa beim diesjährigen Wimbledon-Turnier. Da diese ergiebige Quelle von allerlei Tratschgeschichten durch eine Fußverletzung vorübergehend trocken gelegt ist, müssen sie sich zwangsläufig anderweitig umsehen. Fündig wurden sie auf der Tribüne des Centre Courts beim ersten Match von André Agassi. Fernsehnahaufnahmen enttarnten einen neuen Ring am „Hochzeitsfinger“ von Steffi Graf. Ob denn da was im Busche sei, fragte eine Reporterin Agassi hoffnungsvoll nach dessen Sieg gegen den Niederländer Paul Wessels. Doch die Antwort war eindeutig uncharmanter als jene zweideutigen Repliken, die Anna Kurnikowa für die lechzende Gutterpress parat zu haben pflegt: „Warum denkt ihr euch keine Fragen aus, die euch was angehen?“

Also doch nur Tennis – und da hat das Frauenturnier in diesem Jahr auch ohne Kurnikowa eine Menge zu bieten. Vermutlich niemals zuvor gab es so viele Anwärterinnen auf den Titel und ganz sicher waren noch nie zwei Belgierinnen darunter. Kim Clijsters und Justine Henin haben ein Gebiet auf die Tennis-Landkarte gesetzt, das diesen Sport bisher ungefähr so geprägt hat wie Dänemark das alpine Skifahren. Vor allem in England, dem in der ersten Runde von Wimbledon schon wieder nahezu alle, meist mit Wildcards ausgestatteten Spielerinnen abhanden kamen, schaut man voller Neid auf das kleine Belgien, wo man sich gleich zwei offenbar prächtig funktionierende Tenniszentren leistet: ein flämisches in Antwerpen und ein wallonisches nahe Charleroi. „Wir haben gute Trainer, eine gute Mentalität und der Verband hilft uns sehr“, sagt die in Charleroi groß gewordene Henin, die mit Clijsters gut befreundet ist, obwohl diese in Antwerpen stationiert war. Auch das Halbfinale der French Open, wo Kim Clijsters nach packendem Match gegen Henin gewann, hat der Freundschaft keinen Abbruch getan, versichern beide, nur knapp scheiterte die 18-jährige Siegerin später im Finale an Jennifer Capriati. Beide sind seitdem in den Top Ten, was eine Engländerin, Jo Durie, zuletzt schaffte, „als Frankie Goes To Hollywood in den Charts war und Clijsters ein Jahr alt“, wie The Guardian bissig bemerkt.

Beide Belgierinnen sind schon in jungen Jahren sehr selbstständig, keine aufdringlichen Tenniseltern in Sicht, die allenthalben ihre angeblich schützende Hand über die Töchter halten. Stattdessen zieht Kim Clijsters schon seit anderthalb Jahren in jeder freien Minute mit dem Australier Lleyton Hewitt durch die Gegend. In London, berichtete Hewitt, sehe man sich aber seltener, als man annehmen sollte, da ja beide eine Mission zu erfüllen hätten: Wimbledon gewinnen.

Clijsters zählt zur jungen Riege der Wuchtbrummen, die ihre Gegnerinnen mit gewaltigen Schlägen einschüchtern und aus dem Feld treiben. „Ich bin eine der ganz wenigen Spielerinnen, die sogar auf Sand Gewinnschläge von einem Meter hinter der Grundlinie landen können“, sagt sie selbstbewusst. Die ein Jahr ältere Henin ist dagegen eine selten gewordene Vertreterin klassischer Tenniskunst. „Sie kann ihr Spiel jedem Belag anpassen“, räumt Clijsters der Kollegin auch auf dem schnellen Rasen von Wimbledon Chancen ein. Henin verfügt über die schönste Rückhand im Tennissport seit Gabriela Sabatini, auf Gras verwendet sie aber auch gern jenen Slice, den Steffi Graf mit so viel Erfolg einsetzte. Anders als jene, scheut sie sich jedoch nicht, ans Netz vorzurücken und ähnelt damit mehr einer Jana Novotna als den typischen Angehörigen ihrer Tennisgeneration und der nächsten, die Clijsters schon im Ansturm sieht: „Bovina, Dokic, Dementjewa, Krasnorutskaja, alles Haudraufs.“

Entsprechend ist auch der Favoritenkreis beschaffen: Neben Clijsters natürlich die Grand-Slam-Aspirantin Jennifer Capriati, dann Lindsay Davenport, gerade rechtzeitig von einer Knieverletzung genesen, die Powerschwestern Serena und Venus Williams, Jelena Dokic und eben Justine Henin, wie die in Runde eins ausgeschiedene Martina Hingis Stilistin. „Ich bin nur 1,67 m, also muss ich mein Talent nutzen“, sagt die Belgierin, die 1999 in Antwerpen ihr erstes Turnier auf der Profitour gleich gewann. Auf die Frage, ob denn überhaupt noch Platz sei für Finesse im heutigen Frauentennis, muss Kim Clijsters erst mal eine Weile überlegen. Schon, meint sie dann, allerdings mit Skepsis: „Es ist schwer, mit Gefühl zu spielen, wenn du gegen eine der harten Schlägerinnen antrittst.“

Das musste in den letzten zwei Jahren Martina Hingis, noch Weltranglistenerste, zunehmend erfahren. „Leg dir ein paar Muskeln zu“, gab Martina Navratilova der Schweizerin nach deren Erstrundenaus gegen die Spanierin Ruano-Pascal mit auf den Weg. Zwar kann die kunstfertige Hingis in Bestform gegen jede Spielerin gewinnen, aber wenn ihr, vor allem bei den Grand-Slam-Turnieren, am Ende eine Powerfrau nach der anderen gegenübertritt, reicht irgendwann die Kraft nicht mehr.

Justine Henin könnte in der Zukunft das ideale Gegenmodell abgeben: Stilvoll, aber dennoch mit der Fähigkeit, auch von der Grundlinie aus direkt zu punkten, ein guter Aufschlag und im geeigneten Moment der überraschende Netzangriff, damit kann sie auf Dauer vielleicht sogar den Williams-Schwestern Angst einjagen. Und wenn nicht, haben die Belgier ja immer noch Kim Clijsters.