Wanderzirkus Europa

Alle sechs Monate wechselt der EU-Vorsitz, am Sonntag übernimmt ihn Belgien. Diese ständige Rotation lähmt Europa: Jedes Land verfolgt mal kurz sein Lieblingsthema

Nizza wurde verpfuscht, weil der französische Europamini-ster lieber Wahlkampf zu Hause machte

Seit einigen Wochen finde ich auf Bütten gedruckte Einladungen belgischer MinisterInnen im Briefkasten. Neulich wurde ich sogar bei Hofe vorgelassen und durfte der zierlichen Prinzessin Mathilde unter Palmen die Hand schütteln. Die Königlichen Gewächshäuser in Laeken, die das Volk nur einmal im Jahr zu sehen bekommt, waren einen Nachmittag und Abend lang für die Brüsseler Journaille geöffnet. Dieses Werben um Medienpräsenz ist neu. Normalerweise ignorieren belgische Politiker die Tatsache, dass in Brüssel 800 Pressevertreter sitzen, die ein freundliches Belgienbild in alle Welt tragen könnten. Trotz der Nachbarschaft zur EU-Kommission und zum Europaparlament ist ihnen die Eurowelt gedanklich ein so ferner Kontinent wie den flämischen Politikern die Wallonie und ihren Französisch sprechenden Kollegen das Flandernland. Wenn jetzt bei der belgischen Regierung eine „Zelle Europa“ eingerichtet wird, die den heimischen Politikern die EU und den Umgang mit Brüsseler Korrespondenten nahe bringen soll, dann hat das einen aktuellen Anlass: Am 1. Juli übernimmt Belgien den EU-Vorsitz von Schweden. Dieser halbjährliche Staffettenwechsel, der von der Öffentlichkeit allenfalls als Randnotiz wahrgenommen wird, hat enormen Einfluss darauf, ob das Brüsseler Räderwerk wie geschmiert läuft, ein bisschen knirscht oder fast zum Stillstand kommt.

In einer EU mit demnächst über zwanzig Mitgliedern hat sich das Rotationsritual im Sechs-Monats-Rhythmus überlebt. Beim Nizza-Gipfel vergangenen Dezember hat Romano Prodi angeregt, den Wanderzirkus abzuschaffen und die halbjährlichen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel abzuhalten, wo die nötige Infrastruktur ohnehin vorhanden ist, und Fachleute, Parlament und Interessenverbände ständig vor Ort sind. Gerade der Gipfel von Nizza hat gezeigt, welchem Belagerungszustand sich die Bewohner einer Kleinstadt ausgesetzt sehen, in die der Brüsseler Tross einfällt. Spätestens in Göteborg ist deutlich geworden, welchen Hass diese moderne Variante des kaiserlichen Zugs von einer Pfalz zur nächsten erzeugt. Die fruchtbare Arbeit eines ganzen Semesters kann verdorben werden, weil der Pfalzgraf keine Erfahrung mit derartigen Großereignissen hat. Schon deshalb sollte Prodis Vorschlag rasch umgesetzt werden. Er ist die einzige substanzielle Reformidee des großen Reformgipfels an der Cote d’Azur. Ob sie sich am Ende durchsetzt, ist dennoch fraglich. Denn für die Mitgliedsstaaten ist die Möglichkeit verlockend, sechs Monate lang eine exquisite Werbeplattform zur Verfügung zu haben, auf der sie die Qualität regionaler Produkte und nationaler Modelle anpreisen können.

Wenn die EU arbeitsfähig bleiben will, wird sie sich aber noch konsequenter von lieb gewordenen Ritualen verabschieden müssen. Nicht einmal in Italien wechselt die Regierung im Sechs-Monats-Rhythmus. Kein Land wäre überlebensfähig, das ein derartiges Rotationssystem zum Prinzip erheben würde. Der Nizza-Vertrag wurde letztlich dadurch verpfuscht, dass Frankreich in seinem Präsidentschaftshalbjahr nicht ordentlich gearbeitet hat. Europaminister Moscovici war in Wahlkampfzeiten lieber in den Gängen des Élysée unterwegs, als in Brüssel nach vernünftigen Kompromisspartnern zu suchen. Immerhin hat Moscovici einen Beitrag zur Reformdiskussion geleistet: Jedes Land solle einen Europaminister mit Amtssitz Brüssel ernennen. Dieser ständige Ministerrat hätte mehr Entscheidungsspielraum als die derzeit wöchentlich tagende Botschafterrunde. Das neue Gremium würde die Routinearbeit übernehmen, Fachministerräte und Gipfelkonferenzen könnten sich auf die kniffligen politischen Verhandlungen konzentrieren.

Allerdings müsste eine substanzielle Reform des EU-Tagesgeschäfts sogar noch weiter gehen – und sicherstellen, dass ein Kommissionspräsident oder ein für mehrere Jahre gewählter Vorsitzender der Europaminister politische Kontinuität garantieren. Sonst muss die EU weiterhin alle sechs Monate einen radikalen Fokuswechsel verkraften: Je nach Steckenpferd des amtierenden Ratspräsidenten oder seiner nationalen Parlamentsmehrheit taucht ein Thema in gemeinsamen Erklärungen und Gipfeldokumenten unvermittelt auf, um ein halbes Jahr später wieder zu verschwinden. Die Portugiesen konzentrierten sich auf die Modernisierung, die Finnen auf die Asylpolitik und die Antidiskriminierung; die Franzosen wiederum sorgten sich um Arbeitnehmerrechte und die Deutschen ums Geld. Wenn die Schweden sich Ende des Monats verabschieden, geht das Ökosemester zu Ende.

Ursprünglich hatte das Rotationsprinzip immerhin einen Vorteil: Der ungeschriebene Ehrenkodex sah vor, dass die jeweilige Präsidentschaft ihre eigenen Interessen zurückstellt und als ehrlicher Makler die Gemeinschaftspolitik voranbringt. Geschicktes Timing konnte dazu führen, dass einem Land genau in dem Augenblick die Hände gebunden waren, als seine Herzensangelegenheiten verhandelt wurden. Deutschland beachtete diese altmodische Spielregel und stellte bei den Finanzverhandlungen von Berlin seine Nettozahler-Sorgen zurück. Doch die Franzosen machten ein Jahr später klar, dass das vornehme Getue aus der Mode kommt. Sechs Monate lang konzentrierten sie ihre Energie auf die Sorge, dass Deutschland bloß nicht mehr Stimmen im Rat bekommt als die Grande Nation. Die Schweden wiederum traten in Brüssel so konstruktiv und angenehm auf, dass man ihnen den Job gern länger übertragen würde. Ein beispielhafter Internet-Auftritt (www.eu2001.se) beantwortet die wichtigsten Fragen auf einen Blick. Die von den nordischen Ländern regelmäßig eingeforderte Transparenz wird dort eingelöst, weil meist ein Mausklick genügt, um das Gesuchte zu finden. Denn die Brüsseler Geheimniskrämerei entsteht oft nur dadurch, dass Dokumente im Bermudadreieck zwischen Rat, Kommission und EU-Parlament nicht auffindbar sind.

Nicht einmal in Italien wechselt die Regierung im Sechs-Monats-Rhythmuswie die EU

Da die nationale Informationskultur offensichtlich viel darüber aussagt, wie ein Land sein EU-Halbjahr über die Bühne bringt, stehen den kurzfristig verwöhnten EU-Beobachtern nun wieder harte Zeiten bevor. Belgien scheint zu einer diplomatischen Offensive entschlossen, die den verblassten kolonialen Glanz ein wenig aufpoliert. Cocktail im Palmenhaus statt Hintergrundgespräch zur EU-Reform, Geplauder mit der Verkehrsministerin im Straßenbahn-Museum statt Standortbestimmung zu Fluglärm und Hochgeschwindigkeitsnetz. Beim Abschlussgipfel Ende des Jahres wird nicht etwa die Infrastruktur in Brüssel genutzt, sondern ein paar Kilometer außerhalb der Stadt am Sommerschloss Laeken ein provisorisches Konferenzzentrum aufgebaut. Vielleicht sollten alle, die von dieser Form des Interims-Regierens genug haben, gemeinsam ein Inserat aufgeben: „RatspräsidentIn in Dauerstellung gesucht. Bereitschaft zu Transparenz Voraussetzung. BewerberInnen mit nordisch-demokratischem Hintergrund werden bevorzugt.“ DANIELA WEINGÄRTNER