Qualvoller Tod im Kinderheim

Die Nazis nahmen Zwangsarbeiterinnen ihre Babys weg und ließen sie verhungern. In Niedersachsen bemüht man sich jetzt um eine Entschädigung für die Mütter

STADE taz ■ An damals möchten sich die heute 70- bis 80-jährigen Frauen kaum erinnern. „Zu tief sitzt der Schmerz und die Scham“, berichtet Pfarrer Georg Salzwedel, der vor kurzem ehemalige Zwangsarbeiterinnen in Polen besuchte. Die Kinder der Frauen wurden in den 40er-Jahren in Entbindungs- und Kinderheimen der Nazis getötet.

Gleich nach der Geburt wurden den Frauen die Kinder weggenommen, die dann durch gezielte Vernachlässigung qualvoll starben. „Den Verlust haben die Frauen nicht überwunden“, sagt Salzwedel. Um ihnen zu helfen, hat er zusammen mit einem Pfarrerkollegen den „Altmark-Freundeskreis für NS-Zwangsarbeiter“ gegründet. Denn es sei abzusehen, dass diese Opfergruppe von der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ kaum entschädigt werde. Der Freundeskreis möchte die Betroffenen deshalb auch finanziell unterstützen: „Viele der NS-Opfer können sich keine warme Mahlzeit leisten.“

Nach anfänglichem Zögern hat Anfang letzter Woche auch der Kreisausschuss Stade einer „unverzüglichen Entschädigung“ für diese Opfergruppe zugestimmt. Die ungewöhnliche Entscheidung hat mit der besonderen Geschichte des niedersächsischen Landkreises Stade zu tun. Während reichsweit schätzungsweise 300 Kinder- und Entbindungsheime von Krankenkassen und Wirtschaftsbetriebenunterhalten wurden, betrieb der Landkreis vier eigene „fremdvölkische Kinderheime“. Mindestens 63 Kinder seien dort durch mangelnde Versorgung gestorben, berichtet Heike Schlichting vom Stader Projekt „Alltag im Nationalsozialismus“.

Bis 1942 schickte das Arbeitsamt schwangere Zwangsarbeiterinnen noch in ihre Heimat zurück. Doch Ende 1942 kamen neue Anweisungen aus Berlin. Nun sollten „Kleinkinderbetreuungseinrichtungen einfacher Art“ eingerichtet werden, da man die „Arbeitskräfte nicht verlieren“ wollte und den „deutschen Haushalten die Aufzucht dieser Kinder“ nicht zumuten wollte. 1943 entstand in einem Privathaus in Balje das erste Heim im Landkreis, erzählt Schlichting. Ein Geheimnis wäre es nicht gewesen. Wenn eine Frau schwanger war, habe der Landwirt oder die Bäuerin dies gemeldet, und sie wurde zum Entbinden in die Heime gebracht. Manche Mütter hätten gleich am nächsten Tag wieder arbeiten müssen. Noch schlimmer wäre es aber für jene Mütter gewesen, glaubt Schlichting, die in den Heimen eingesetzt wurden und ihre Kinder sterben sahen. „Im damaligen Deutschen Reich sind vermutlich über 100.000 Kinder so getötet worden“, schätzt Schilling: „Aber diese NS-Verbrechen sind nur lückenhaft erforscht.“

Schwierig gestaltet sich für Salzwedel und seinen Freundeskreis auch die Suche nach noch lebenden Opfern. „Unterstützt von der Lodzer Dependance des Maximillian-Kolbe-Werk fanden wir erst zehn betroffene Frauen.“ Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hat polnische Zeitungen kürzlich gebeten, über die geplante Hilfe aus dem Kreis Stade zu informieren. Nach einem Bericht der Zeitung Trybuna meldete sich immerhin eine Betroffene.

Mittlerweile scheinen mit Hilfe der Stifung „Deutsch-polnische Versöhnung“ weitere Frauen gefunden worden zu sein. In der vergangenen Woche leitete das Stadtarchiv Stade Daten von betroffenen Müttern an die Warschauer Stiftung weiter. „Bei einem ersten Abgleich sind mit größter Wahrscheinlichkeit neun Frauen gefunden worden“, so Jürgen Bohmbach, Leiter des Stadtarchivs und Ansprechpartner für die Opfer.

Ohne die zusätzliche Hilfe würden die betroffenen Frauen wahrscheinlich weitgehend leer ausgehen. Zwar hat die Bundestiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern einen Fonds von 50 Millionen für Frauen, die ihre Kinder verloren haben, bereitgestellt. Doch das dürfte viel zu wenig sein. Wenn man von dem Höchstsatz von 15.000 Mark ausgeht, der für die individuelle Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern vorgesehen ist, könnten also höchstens 3.300 Frauen entschädigt werden. Noch nicht berücksichtigt sind dabei die ebenfalls antragsberechtigten Menschen, die als Kinder trotz der systematischen Unterversorgung in den Heimen überlebten. Sie erhalten überhaupt nur eine Entschädigung, wenn sie „schwerste physische oder psychische Schäden“ nachweisen können. ANDREAS SPEIT