Der kalte Blick auf den Wahn

Bei der Erforschung und Behandlung von Geisteskrankheiten sind die Biologisten auf dem Vormarsch. Kritiker fürchten „eine Norm geistiger Gesundheit“

von BARBARA DRIBBUSCH
und STEPHANIE VON OPPEN

Es ist ein Fall unter vielen: Die junge Frau plapperte und kicherte ununterbrochen vor sich hin und war nicht mehr ansprechbar. Die Eltern brachten die 19-Jährige in eine Nervenklinik in Bayern, Diagnose: Schizophrenie. Sie bekam starke Psychopharmaka, ein Leben mit der Krankheit schien ihr bevorzustehen. Heute ist die Frau gesund. Sie arbeitet als Diplompsychologin. Es blieb bei dem einmaligen psychotischen Schub, der auch durch soziale Faktoren ausgelöst war: Sie hatte gerade das Abitur bestanden, musste sich von ihrem bäuerlichen Elternhaus lösen und war innerlich vereinsamt.

Der Fall berührt eine Kernfrage der Psychiatrie: Ist das Verrücktsein durch die eigene Biographie, das soziale Umfeld bedingt – oder eher biologisch, also durch genetische Faktoren? Zwei sehr unterschiedliche Veranstaltungen beschäftigen sich in den kommenden Tagen mit diesem Thema. Heute beginnt in Berlin der Kongress „Freedom of Thought“. Wissenschaftler und Journalisten werden über Gentechnik, Psychiatrisierung politisch Verfolgter und Biowaffen diskutieren. Außerdem verhandelt das so genannte Russel Tribunal das Thema Menschenrechte in der Psychiatrie. Die Organisatoren, Wolf-Dieter Narr, Politikprofessor an der Freien Universität Berlin, und der Berlin-Brandenburgische Landesverband der Psychiatrieerfahrenen, haben diese Veranstaltung nicht ganz zufällig unmittelbar vor den Weltkongress für biologische Psychiatrie gelegt, der am Sonntag in Berlin beginnt. Im Internationalen Congress Centrum Berlin werden sich dann Psychiater aus aller Welt eine Woche über den neuesten Forschungsstand von Gen- und Hirnforschung sowie medizintechnische Neuerungen austauschen, gesponsert von einer Reihe großer pharmazeutischer Konzerne.

Dieser Kongress sollte verboten werden, ginge es nach den Veranstaltern von „Freedom of Thought“. Sie werfen den biologischen Psychiatern unter anderem vor, eine „Norm geistiger Gesundheit“ schaffen zu wollen. Tatsächlich ist der biologistische Ansatz in der Psychiatrie wieder auf dem Vormarsch: Dank neuer diagnostischer Verfahren in der Hirnforschung können psychische Störungen immer besser im Hirn lokalisiert werden. Psychiater sind auf genetische Veränderungen gestoßen, die etwa auf eine Anfälligkeit hinweisen, an Schizophrenie zu erkranken. Und es gibt neue, so genannte atypische Neuroleptika, die weniger Nebenwirkungen haben als traditionelle Psychopharmaka. Die naturwissenschaftlich orientierten Forscher sind im „Kompetenznetz Schizophrenie“ vertreten, einem Forschungsverbund verschiedener Psychiatrieverbände und Kliniken, der von der Pharmaindustrie mitfinanziert und vom Bundesforschungsministerium unterstützt wird.

In der Informationsschrift des Kompetenznetzes wird erklärt, dass schizophrene Psychosen zu ungefähr 50 Prozent genetisch bedingt seien. Um die Krankheit zu erforschen, sollen „Ressourcezentren für DNA- und Zelllinien“ von an Schizophrenie Erkrankten aufgebaut werden. Um das Erkrankungsrisiko frühzeitig abzumildern, empfehlen die Forscher, Frühsymptome wie „Leistungsabfall und Wahrnehmungsstörungen“ besser zu erkennen, die sich angeblich schon fünf Jahre vor der ersten Erkrankung einstellten. Um Personen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko herauszufiltern, sollten verschiedene „Vorfeldeinrichtungen“ einbezogen werden, zum Beispiel „Beratungslehrer an Schulen, Erziehungsberatungsstellen oder Hausärzte“ heißt es in der Informationsschrift.

„Damit ist der Stigmatisierung Tür und Tor geöffnet“, befürchtet Inge Kramer, Sprecherin im Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen (BPE). Die Gefahr bestehe, dass Geschwister oder Kinder von Psychiatrieerfahrenen mit diesen Untersuchungen schon sehr früh belastet und stigmatisiert würden.

Zum „Kompetenznetzwerk Schizophrenie“ gehören jedoch nicht nur biologische Psychiater. Wielant Machleidt, Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover, vertritt die so genannte Sozialpsychiatrie. Bei einem akuten Anfall von Schizophrenie zum Beispiel könne eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung die Psychopharmaka ersetzen, hat Machleidt beobachtet . Die Therapeut-Patient-Beziehung, die dabei entstehe, helfe dann, den Betroffenen schneller wieder zu integrieren. Wielant Machleidt baut in Hannover eine „Soteria“ auf (siehe Kasten rechts). Den derzeitigen Trend zur biologischen Psychiatrie bezeichnet er als Mode. Die entspreche eben dem Zeitgeist. Für Machleidt sind die alten Feindbilder zwischen biologischen und sozialen Psychiatern überflüssig geworden, im Gegenteil, im Idealfall ergänze man sich. Allerdings: „Die Pharmaindustrie bestimmt die Forschungsrichtung der Psychiatrie durch ihr Geld. Die Steuerung der Forschung müssen wir wieder in unsere eigenen Hände nehmen.“

Die Websites beider Kongresse: www.freedom-of-thought.de www.biol-psychiat-berlin.de