Eiweißgift und Muttermord

Das Netzwerk der archäologisch arbeitenden Frauen feierte sein zehnjähriges Jubiläum mit einer Tagung und Museumsführungen in Berlin. Ein feministisch gefilterter Bericht aus den Früh- und Spätzeiten der Menschheit

von UTE SCHEUB

Der Berliner Hausvogteiplatz sieht aus, als seien Ausgräber über ihn hergefallen. Kein Stein mehr auf dem anderen, Bagger, Bauzäune, freigelegte Rohrsysteme. Aber die siebzig archäologisch arbeitenden Frauen, die sich hier am 15. und 16. Juni in den Räumen der Humboldt-Universität zusammengefunden haben, sind unschuldig. Mit Vorträgen und Museumsführungen feiern sie das zehnjährige Bestehen ihres Netzwerkes. Archäologinnen beherrschen nicht nur das Ausbuddeln von Kulturschätzen, sondern auch das Bloßlegen von Fundamenten des Patriarchats.

Das zeigt unter anderem die US-Wissenschaftlerin Linda Owen in ihrem Vortrag über das Jungpaläolithikum. Wer denkt da nicht unwillkürlich an die mutigen Jäger, die sich Mammut und Säbelzahntiger entgegenstellten, um ihre Familie zu ernähren? Ein völlig verzerrtes Bild, findet Owen. Die Großwildjagd sei von männlichen Archäologen „systematisch überschätzt“ worden. Ihre Beweisführung ist, wenn sie denn stimmt, von geradezu genialer Einfachheit: „Wer mehr als fünfzig Prozent seiner Nahrung in Form von Fleisch verzehrt, vergiftet seine Leber.“

Eine solche Eiweißvergiftung sei auch heute noch bei den Inuit in der Arktis zu beobachten, wenn diese sich zeitweilig nur von Schneehühnern ernährten. Wer viel Fleisch verzehre, brauche unbedingt pflanzliche Kohlenhydrate oder Fett zum Ausgleich, sagt Owen. Unsere Vorfahren, die man in unzähligen Bildern unzähliger Museen mit Bärenfell und Fleischspieß ums Lagerfeuer kauern sieht, hätten also Selbstausrottung betrieben, wenn sie den Ernährungsvorstellungen moderner Archäologen gefolgt wären.

Also waren die Männer Jäger und die Frauen Sammlerinnen, wie man es immer hört? Auch falsch, sagt Owen. Wenn es denn überhaupt erlaubt ist, von heutigen oder in der Kolonialzeit beobachteten Naturvölkern auf die Verhältnisse in der Jungsteinzeit zu schließen, dann bitte nur mit großer Sorgfalt. Aber genau das sei nicht geschehen: Es waren Männer, die vorwiegend über Männer schrieben und dann wiederum von Männern interpretiert wurden. Die Schriften der Händler, Missionare und Regierungsbeamten von gestern seien von heutigen Archäologen oft auch noch falsch interpretiert worden.

Ein Beispiel: Bei den Inuit in Grönland oder den Chippewanindianern würden die Männer die gesamten Nahrungsmittel beschaffen, behauptete der US-Wissenschaftler Kelly in einer vergleichenden Ernährungsstudie. Linda Owen überprüfte die Primärquellen. Dort aber hieß es, dass die Inuitfrauen Lachse, Haie, Vögel und Seehunde jagten und die Chippewanfrauen bis zu zehn Hasen am Tag erlegten. „In vielen Gesellschaften“, fasst sie zusammen, „jagten Frauen allein oder zusammen mit den Männern.“

Aber wie war das denn später? Zum Beispiel in Mesopotamien, dem Geburtsland von Ackerbau und Viehzucht, der Wiege der menschlichen Zivilisation? Dörte Döring und Christiane von Lengerke laden zur Führung durch das Pergamonmuseum. Viele matriarchale Spuren sind nicht mehr zu entdecken, schon gar nicht in diesem schlecht geführten Haus, in dem mies gelaunte Angestellte ihre Befriedigung in der fortwährenden Scheuchung des störenden Publikums finden. Eines wird dank kundiger Führung doch klar: Das vielleicht wichtigste Drama der Menschheit war nicht der Vatermord, wie von Ödipus vorgemacht und von Freud propagiert, sondern der Muttermord. Der gewaltsame Sturz der Muttergöttin, die es in Mesopotamien als Inanna, Nisaba, Tiamat und Ischtar gleich in vierfacher Ausgabe gab.

Das im Museum zu bewundernde prächtig blaue Ischtartor des Stadtstaates Babylon trägt nur noch den Namen der Göttin, gebaut wurde es um 600 v. Chr. von Stadtkönig Nebukadnezar aber zu Ehren eines Göttinnenmörders. Marduk, so heißt es in dem Schöpfungsmythos Enuma Elisch, hat seine Mutter Tiamat getötet, „ihren Unterleib zertrampelt“, „ihren Schädel zerschmettert“ und aus diesen blutigen Klumpen Himmel und Erde geformt. Tiamat, Dia mater, die Mutter aller Götter, wurde zu Diameter, zum Durchschnitt und zur Durchschnittenen, aus den ideologischen Überresten wurde später die griechische Demeter und die christliche Jungfrau Maria geformt.

Alljährlich beim Neujahrsfest gab es damals eine große Prozession zwischen dem siebenstufigen Turmbau zu Babel und dem Ischtartor. In einem Gemach auf der Turmspitze soll die „Heilige Hochzeit“ gefeiert worden sein, ein sexueller Ritus, um dem Land die Fruchtbarkeit wiederzugeben. In der Version Herodots wählte sich der gottähnliche Stadtkönig eine Frau. Auch das war wohl eine Umkehrung der früheren Machtverhältnisse: Anfangs soll die Stellvertreterin der obersten Göttin sich des nur irdisch legitimierten Stadtkönigs bedient haben. Der Mythos von der Hochzeit zwischen der göttlichen Inanna und ihrem sterblichen Liebhaber Dumuzi legt das nahe, ist aber im archäologischen Sinne kein Beweis.

Die anschließende S-Bahn-Fahrt zum Ägyptischen Museum geht durch das frisch umgepflügte Regierungsgelände Berlins. Die Blicke schweifen. Gerade ist der Regierende Bürgermeister gestürzt worden. Hat Diepgen in diesem Jahr vergessen, seine Hochzeit mit der Jungfrau Maria zu halten?

Hinein in die heiligen Hallen der Nofretete, diesmal geführt von Elvira Büchner und Brigitte Jenke. Auch sie wissen Ähnliches zu berichten: Wie die allmächtigen Muttergöttinnen des alten Ägypterreiches – Hathor, Isis, Naith und Nut – gestürzt oder zu Gottestöchtern verkleinert wurden. Einer der vielen Versuche, einen rein männlichen Schöpfungsmythos durchzusetzen, spielte sich ungefähr 2000 v. Chr. ab: Gott Atum, so hieß es damals, onanierte und zeugte das Geschwisterpaar Luft und Feuchtigkeit, dieses wiederum die Erde Geb und den Himmel Nut, diese wiederum Osiris, Isis, Nephtis und Set. Die einst allmächtige Nut wurde zur Gottestochter degradiert, Isis zur Enkelin.

Das erinnert an die alten Griechen, die ebenfalls eine mutterlose Geburt erfanden: Athene entsprang fertig entwickelt dem Kopf ihres Vaters Zeus. Was wohl Aspasia dazu gesagt hat, Gefährtin des Perikles, Gesprächspartnerin von Sokrates, eine der wenigen hochgebildeten Frauen, die von der griechischen Männerwelt akzeptiert wurden? Ruth Lindner weist in ihrem Vortrag über Aspasia darauf hin, dass die damaligen Schulen dem männlichen Geschlecht vorbehalten waren. Bisher sei nur eine einzige Darstellung einer Schülerin gefunden worden. Bildunterschrift des Museums, das die entsprechende Vase ausstellte: „Mädchen, das widerstrebend zur Schule geführt wird.“ – „Könnte es nicht umgekehrt gewesen sein?“, meldete sich eine Archäologin zu Wort. „Wird sie nicht widerstrebend aus der Schule geholt? Und ihrer Bildungsmöglichkeit beraubt?“

Die Anmerkung hat geradezu exemplarischen Charakter. „Könnte es nicht umgekehrt gewesen sein?“ – das ist die wichtigste Frage der Archäologinnen. Nein, es war nicht immer umgekehrt. Nein, wir werden niemals endgültige Klarheit über frühere Lebensverhältnisse haben. Nein, es gab vielleicht nie ein Matriarchat, und es geht auch nicht darum, Mutterkultskitsch zu produzieren. Aber: Die Frage hilft, die drei zentralen Fragen der Menschheit zu klären, wie sie Ernst Bloch definierte: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“

Allerdings ist sie meistens nur spekulativ zu beantworten. Stellen wir uns doch mal vor, was die zukünftigen GräberInnen in zehntausend Jahren von unserer Zivilisation noch vorfinden werden. Die Bücher sind zerfressen, das Papier zerfallen, ganz zu schweigen von den unlesbaren Überresten der Videokassetten und CD-Roms. Aber ein paar Dollarmünzen wird man aus dem Schutt ziehen, vielleicht auch Joghurtbecher, Kondome, einige versteinerte Spaghetti im Meer vor Rom und jede Menge unverändert strahlenden Atommüll. „Weltweit zu finden. Also Gottesverehrung. Eindeutig“, werden die Archäologen sagen und die Fünf-Cent-Münzen mit Franklin D. Roosevelt in den Händen drehen.

„Wieso?“ werden die Archäologinnen fragen und eine der seltenen Ein-Dollar-Münzen hochhalten: „Hier, Susan B. Anthony, offenbar die Muttergöttin.“

UTE SCHEUB, 45, taz-Gründungsmitglied, lebt als freie Journalistin in Berlin. Von der elterlichen Wohnung in Tübingen aus hatte sie einen herrlichen Blick auf Ernst Blochs Haus