Anachronistische Augenweide

■ Die Weser-Ems-Region schmückt sich mit groß angelegter Historismus-Ausstellung, Frucht erstmaliger Zusammenarbeit

Trash ist bunt, Trash ist kultig. Antiker Trash heißt Historismus, ist besonders plüschbunt und derzeit in Oldenburg und ganz Weser-Ems zu sehen. „Historismus in Nordwestdeutschland“ heißt die ehrgeizige Mammutschau in Jever, Emden, Cloppenburg, Rastede und Oldenburg.

Bislang ließen Retrospektiven und Epochenschauen den Historismus fein säuberlich aus: Von der Gegenwart ging es zurück zum Jugendstil und von grauer Vorzeit aus aufwärts bis Biedermeier. Die Lücke dazwischen: Ein Konglomerat verschiedenster „Neo-Stile“, spekulativer Vergangenheitsaufbereitungen, eine wild mixende Stil-Zitat-Epoche. Zwei Kriege markieren Beginn und Ende – die „Napoleonischen Befreiungskriege“ (bis 1815) und der Erste Weltkrieg – die ihrerseits überdeutlich machen, welcher Geisteshaltung der Historismus eng verwandt war: dem Nationalismus. Den größten Push bekam historisierendes Bauen, Wohnen und Dekorieren mit dem deutschen Sieg 1871 über Frankreich, der sofortigen Proklamation des „Zweiten Deutschen Reiches“ und dem folgenden ökonomischen Boom, genannt Gründerzeit.

Schon damals stellte sich die Epoche mit ihren Leistungen auch im Nordwesten voll Stolz zur Schau, in der „Gewerbe- und Industrie-, Marine-, Handels- und Kunstausstellung“ von 1890 in Bremen. Auch Oldenburg hatte schon seine Historismus-Ausstellung. Die war dann Ende der 20er Jahre und eher als Befreiungsschlag gedacht. Erfüllt von „Neuer Sachlichkeit“ führte der damalige Museumsdirektor Walter Müller-Wulckow die historistischen Auswüchse als Schreckenskabinett der Stilverirrung vor, die Beschädigung der Exponate per Präsentation nahm er billigend in Kauf.

Sein Nachnachnachfolger Bernd Küster lädt nun zu einer „Neubesichtigung der Epoche“ ein, gibt aber zu: „Vor zehn Jahren hätte ich mir so eine Schau auch nicht träumen lassen.“ Der Schritt vom schlichten „wir lassen die Bestände nicht mehr verkommen“ (Küster) zum jetzigen Großprojekt ist ein weiter und ein ungewöhnlich gemeinsamer: Die erste derartige Verbundarbeit in Niedersachsen überhaupt. Grundlage für diese neue Qualität in der regionalen Zusammenarbeit ist das seit vier Jahren bestehende Projekt „Musealog“, eine gemeinsame Qualifizierungsmaßnahme für den wissenschaftlichen Nachwuchs.

Aus den Beständen der beteiligten Häuser ergibt sich ganz von selbst eine Palette sozialgeschichtlicher Perspektiven. Oldenburg und Jever zeigen bürgerliche bis feudale Inneneinrichtungen, außerdem widmet das Landesmuseum dem schon damals beliebten Thema der Kunstfälschung (auch „Nachempfindung“ genannt) eine aufschlussreiche Extra-Präsentation. In Cloppenburg ist ländliches Wohnen und Bauen zu besichtigen: „Auch die Großbauern orientierten sich sehr bewusst am neuen Stil“, erklärt Museumsdorfdirektor Uwe Meiners. Im Palais Rastede kommt Theodor Fontane zu Wort, der als zeitgenössischer Dichter und Denker reflektierte: „Der tragische Hergang gehört in das historische Bild“.

Auch Bremen ist indirekt vertreten: Über seinen Historienmaler Arthur Fitger, damals unbestrittener Malerfürst Norddeutschlands. Da er beste Beziehungen zum großherzoglich-oldenburgischen Hof unterhielt, ist das Schloss selbst (insbesondere der prächtige Theatersaal) voller Fitgers. Eine Entdeckung in diesem Zusammenhang sind die 80 bisher verschollen geglaubten Entwurfzeichnungen des Künstlers, die die Wandgemälde im Maßstab eins zu eins vorwegnehmen: Gemalte Geschichte als grandioses Theaterspektakel, als pompöse Inszenierung.

Angesichts dieser Bilder wird deutlich, welche Spannung die historistischen Stilblüten entstehen ließ: Die rasanten technischen und sozialen Veränderungen der industriellen Revolution führten zu fundamentalen Verunsicherungen und Sehnsüchten nach historischer Rückversicherung, nach Schwelgereien in „guter alter Zeit“.

Den so enstandenen Anachronismus macht der Emdener Teil der Ausstellung deutlich. Die Ostfriesen lassen den historischen Festumzug in mittelalterlichen Kostümen wieder lebendig werden, mit dem 1856 die Ankunft des technischen Fortschritts in Emden gefeiert wurde: Die Eröffnung der Westbahn. Schon 1820 entstand hier die „Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer“, die bis heute unter gleichem Namen existiert und den Grundstock für das Ostfriesische Landesmuseum zusammentrug. Unter dem Motto Historismus können sich viele der beteiligten Museen also selbst, beziehungsweise ihre Entstehungsgeschichte ausstellen.

Schätze des 19. Jahrhunderts: Dem Publikum bietet sich ein opulenter Augenschmaus, ein Bad in farbenfrohem Plüsch, in überbordendem Figurenreichtum und imperialer Gemütlichkeit. Doch, bei aller Schaulust und Sympathie für die überortliche Zusammenarbeit der Museen, zwei sehr grundsätzliche Fragen bleiben – nach dem Warum und dem Wie.

Dass der Historismus bisher kein Thema für Museen war, hat unter anderem den einfachen Grund, dass seine Erscheinungen im Alltagsleben präsent sind: Kaum ein Hauptbahnhof, Hauptpost oder andere staats- und stadttragende Erbschaft aus dem 19. Jahrhundert, die nicht im historisierenden Gewand daher käme. Auch im Interieur setzt sich die Leidenschaft für Historisch-Behäbiges bis heute fort, west etwa in der Spielart „Gelsenkirchener Barock“ in bundesrepublikanischen Eigenheimen.

Wohl nicht zu unterschätzen für die Themenwahl der AusstellungsmacherInnen sind pragmatische Gründe. „In allen Häusern gibt es reichhaltige – und sehr vernachlässigte – Bestände an historistischen Objekten“, erklärt Bernd Küster. So gesehen ist das Sammelsurium „Historismus“ schlicht so etwas wie das größte gemeinsame Vielfache für ein umfangreich angelegtes Gemeinschaftsprojekt.

Aber darüber hinaus scheint es, dass die nordwestniedersächsische Initiative dem Zeitgeist entspricht. Seit den 80er Jahren erfährt der Historismus eine allmähliche Rehabilitation, in der Berliner Architektur ist er derzeit sogar gradezu hip, was sich in einer Art „Hotel-Adlonisierung der Hauptstadt“ niederschlägt, etwa in zahlreichen Neubauten in Mitte.

Ob in Berlin oder Oldenburg, die ideologischen Implikationen dieses neu geschätzten Stils bleiben weitgehend unberücksichtigt. Dabei ist er Ausdruck eines imperialen Lebensgefühls, hat zu tun mit Kolonialismus, wieder zu errichtender deutscher Herrlichkeit, mit Bismarck und den „Sozialistengesetzen“, mit politischer Restauration, dem Wilhelminismus – und mündet nicht umsonst in den Weltkrieg. Zum bürgerlich-feudalen Salon gehören zeitgleich und kausal das überfüllte Arbeiterquartier, 70-Stunden-Woche und Kinderarbeit, die den Prunk ökonomisch möglich machten. Darauf expliziter hinzuweisen, den ideologischen Hintergrund also besser auszuleuchten, hat die Oldenburger Ausstellung verpasst. Sehenswert ist sie trotzdem. Henning Bleyl

Noch bis zum 9. September. Informationen zu den Ausstellungen und zum Begleitprogramm gibt's im Netz unter www.historismus-ausstellung.de