Flying Boygroup expandiert

Bei den Deutschen Meisterschaften ist von einer Krise der Leichtathletik nichts zu spüren. Jedenfalls nicht im Stabhochsprung, wo Richard Spiegelburg siegt und Tim Lobinger den WM-Start verbaut

aus Stuttgart FRANK KETTERER

Drüben, in der lang gestreckten Kurve des Gottlieb-Daimler-Stadions in Stuttgart, war plötzlich nichts mehr zu spüren von der Krise, in der die deutsche Leichtathletik im Jahr nach Olympia so tief gerutscht war. In der Kurve hatten die fliegenden Männer ihre langen Stäbe ausgepackt, und was sie mit diesen vorführten, war das Beste und Hochklassigste, was je bei deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im Stabhochsprung zu sehen war: Immer höher musste die Latte von den Kampfrichtern geschraubt werden, und immer höher katapultierten sich die Kerle in den Himmel, so weit, dass am Ende 6,01 Meter auflagen – neuer deutscher Rekord.

Danny Ecker, der 5,85 m bereits im ersten Versuch überquert und damit sein Ticket zur Weltmeisterschaft Anfang August in Edmonton gelöst hatte, versuchte sich an der neuen Rekordmarke, scheiterte zweimal deutlich, einmal knapp und gab später grinsend bekannt, dass er sich darüber gar nicht so besonders gräme, auch wenn der Meistertitel dadurch etwas überraschend an Richard Spiegelburg ging. Der meisterte alle Höhen einschließlich der siegbringenden 5,85 m im ersten Versuch. Am Ende hatte er genau einen Fehlversuch weniger aufzuweisen als Ecker.

„Alles ist möglich“, sagte der –und meinte damit offensichtlich die WM, bei der die fliegende Boygroup aus Germany durchaus ein Wörtchen bei der Medaillenvergabe mitreden könnte. Höher als 5,90 m nämlich ist in dieser Saison weltweit bisher noch niemand gesprungen. Und das, so die Erkenntnis aus Stuttgart, haben die deutschen WM-Starter Ecker, Spiegelburg und Michael Stolle auch drauf.

Stolle, der bei den „Deutschen“ nach 5,80 m und mit Rang vier aussteigen musste, weil er bei seinem ersten Fehlversuch über die nächste Höhe mit der Hüfte auf die Latte geknallt war, hatte die Teilnahme für Edmonton schon vergangenes Wochende mit seinem Sieg beim Europcup in Bremen festgezurrt. Zudem standen durch den Drittplatzierten Lars Börgeling und dem Meisterschaftsfünften Tim Lobinger zwei weitere Athleten mit übersprungenen 5,80 m zu Buche.

Fünf Springer mit einer solchen Höhe hatte es bei deutschen Titelkämpfen noch nie gegeben. Und natürlich birgt das auch Probleme und Eifersüchteleien in sich, weil nicht alle akzeptieren können, dass sie, obwohl nach wie vor Weltklasse, im eigenen Land plötzlich nur noch zweite Wahl sind. So war Tim Lobinger zur Pressekonferenz erst gar nicht erschienen.

Dem Vernehmen nach soll der erste deutsche Sechsmeterspringer und Rekordhalter gleich im Anschluss an den Wettkampf mächtig über die neue nationale Hierachie in seiner Sportart gewettert haben, namentlich gegen den neuen deutschen Meister: Spiegelburg. Der 23-Jährige, so empfindet es Lobinger jedenfalls, habe in Stuttgart nur eine Sternstunde erlebt, zur WM aber solle der DLV doch besser einen erfahrenen Athleten entsenden: ihn nämlich.

Diese Meinung hat Lobinger derzeit allerdings exklusiv. Zu überzeugend war der Auftritt Spiegelburgs in Stuttgart, auch nach dem Wettkampf. „Ich denke, diese Leistung ist wiederholbar“, konterte dieser gelassen die Angriffe des Konkurrenten, dem er einen „ausgeprägten Ehrgeiz“ attestierte. Ehrgeiz – das war nicht immer Spiegelburgs auffälligster Charakterzug. „Nicht gerade der Trainingsfleißigste“, verriet Danny Ecker, sei der Studentenweltmeister von 1999 gewesen.

Spiegelburg übt seit letztem Winter in der Leverkusener Trainingsgruppe von Lecek Klima mit, dem personifizierten Glücksfall für den deutschen Stabhochsprung. Und hat jede Menge gelernt von seinen Trainingspartnern Ecker, Stolle und Börgeling. „Ich habe eine gewisse Technikvorstellung“, sagt Spiegelburg, was bei ihm wohl Vererbungsache ist: Schon der Vater übte sich im Stabhochsprung, ebenso die beiden älteren Brüder sowie seit einiger Zeit auch die jüngere Schwester, die es trotz ihrer erst 15 Jahre bereits auf 3,90 m gebracht hat.

Richard selbst kam über den Mehrkampf zur Stabartistik, am Ende der Fahnenstange ist er mit seinen 23 Jahren noch nicht angekommen. Schon wegen der Technik, an der noch gefeilt werden kann. „Ich bin noch nicht am Ziel“, sagte Spiegelburg in Stuttgart. „Aber ich bin auf einem guten Weg.“