bernhard pötter über kinder
: Triumph des Widersinns

Moderne Eltern argumentieren mit ihren Kindern. Meist umsonst. Was jedoch fast immer hilft: krasse Unvernunft

Am Anfang dachte ich noch an Zufall. Natürlich waren wir wieder mal spät dran. Zehn nach halb neun, seit zehn Minuten steht das Frühstück im Kindergarten auf dem Tisch, und die Fruchtzwerge langen zu. Wer zu spät kommt, bringt alles durcheinander. Jonas kümmert das nicht. Er liegt auf dem Boden vor dem Eingang zum Kindergarten und seziert einen Käfer. Viertel vor neun, mein Adrenalinpegel steigt. Wenn ich ihn wie einen Castor-Demonstranten ins Haus schleppe, geht der passive Widerstand in aktive Rebellion über. Zehn vor neun. Was tun? „Sprich mit deinem Kind“, sagt wieder einmal der Erziehungsberater in mir.

Komm, Jonas, die anderen warten. „Willnich.“

Aber die essen dir alles weg. „Willnich.“

Aber Rosa wird sauer. Das ist die Erzieherin. „Willnich.“

Und dann kam es über mich: Jonas, wir müssen gehen, dahinten ist die Tür zu. Er steht auf, rennt los und saust zum Frühstück. Keine Ahnung, warum ich das mit der Tür gesagt habe. Es stimmte nicht. Und hatte mit der Situation überhaupt nichts zu tun. Ein Zufall. Aber es klappte.

Am Abend die Ins-Bett-geh-Arie mit allen Zugaben. Jonas sitzt auf dem Wickeltisch und schreit an gegen die Taubheit dieser Welt. Selig die Sanftmütigen, denkt sein Papa. Aber hinter meinen Schläfen pocht das Blut.

Komm, Jonas, du brauchst eine neue Windel. „Nei-hen!“

Ohne Schlafanzug ist dir kalt und du wirst krank. „Nei-hen!“

Jetzt lege ich es drauf an: Aber du musst den Schlafanzug anziehen. Da oben fliegt doch ein Hubschrauber. Stille. Große Augen, der Mund so weit geöffnet, dass der Nuckel rausrutscht. „Was?“

Es wird noch ein schöner Abend.

Später lassen wir auf dem Sofa den Tag vorbeiziehen. „Manchmal macht Jonas mich rasend“, sagt Anna, „bei Argumenten sagt er immer nur nein.“ Genau, sage ich. Aber mit Unvernunft kann man ihn kriegen. „Er ist halt ein kleines Kind von nicht mal drei Jahren“, sagt Anna. Natürlich hat sie Recht.

Oder? Vielleicht gilt meine Entdeckung auch für den Rest der Welt. Am nächsten Tag schleicht sich Kollege K. an mich heran. Ob ich nicht für den Redaktionsrat kandidieren wolle, das sei doch wichtig. Ich schätze den Kollegen, ich schätze den Redaktionsrat, aber ich scheue die Arbeit. Das kann ich aber so natürlich nicht sagen. Himmel, eine Ausrede! Mir fällt nichts Gescheites ein. Oder doch: Ach, das ist schlecht, höre ich mich sagen. Wir bekommen doch noch ein Kind. „Ach, das hatte ich vergessen“, sagt der höfliche Kollege. „Dann geht das ja nicht.“ Er trollt sich.

Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Viele Leute mit Kindern sitzen in Gremien. Trotzdem wirkt die Strategie. Es muss also etwas anderes sein: Das offensichtlich Widersinnige hat den Kollegen überzeugt. Das passt eigentlich nicht in unsere Welt. Wer mit gewaltfreiem Widerstand Erfolg haben will, der muss seine Gegner überraschen und mental aus der Bahn werfen, haben wir an der Universität diskutiert. Aber da ging es um rationales Argumentieren und um den Appell an die Vernunft der Widersacher. Und nicht um schieren Blödsinn.

Am Abend sitzen wir wieder mal auf unserem Sofa und schauen in den „Tagesthemen“ eine Pressekonferenz: „Herr Staatssekretär, warum impfen wir die Tiere nicht gegen Maul- und Klauenseuche?“ – „Weil es auch für die Tiere besser ist, geschlachtet zu werden.“ Drei Minuten später sagt Anna: „Was hat der da gesagt? Tiere werden lieber getötet als geimpft?“ Mich hat das überzeugt. Der Glaube an den Widersinn hält mich schon fest in seinen Klauen. Alles funktioniert doch viel besser, wenn man sich nicht so richtig versteht.

„Das ist absurd“, sagt Anna. „Die Leute müssen sich verstehen, um sich zu verstehen.“ Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Ein Teil unserer Familie lebt in den USA. Die Amis können natürlich kein Deutsch. Unser Englisch reicht nicht für wirkliche Diskussionen. Und alle verstehen sich prächtig. Wäre das auch so, wenn wir eine gemeinsame Sprache hätten? Was stoppte den Turmbau zu Babel? Nicht etwa das Oberverwaltungsgericht Bagdad, sondern die Sprachverwirrung. Keiner wusste mehr, was der Nachbar sagte, das Monstrum wurde nicht gebaut. Auch da haben wir davon profitiert, dass man sich manchmal besser nicht zu genau versteht.

Die Politik hat das längst begriffen. Die Verständigung bleibt im Ungefähren. Niemand weiß so richtig, was der andere denkt und plant. Also muss man vorsichtig sein. Werden die Dolmetscher, die Schröder und Putin ihre Übersetzungen ins Ohr murmeln, darauf gedrillt, immer haarscharf neben der eigentlichen Bedeutung zu liegen? Alles läuft gut, weil man sich nicht versteht. So gesehen wäre Esperanto der direkte Weg ins Verderben.

Mein Geheimnis macht mich zu einem glücklichen Menschen. „Ich will den Lolli da!“, heult Jonas bei der Quengelware an der Supermarktkasse. Das geht nicht, weil es heute regnet, sage ich mit todernstem Gesicht. „Nicht den roten Pulli anziehen“, protestiert er am Morgen. Doch, sage ich. Die Müllautos warten schon auf uns. Irgendwann wird er mich für gestört halten. Aber bis dahin funktioniert es.

Dachte ich bis gestern. Da saß ich auf dem Sofa und las. Das geht natürlich nicht, dachte unser Quälgeist. „Papa, komm Eisenbahn spielen!“ Hmmmmm. „Papa, ich finde Puppe Gerda nicht.“ Hmmm, jaja, gleich.

„Papa, die Waschmaschine ist voll.“ Automatisch stehe ich auf und folge ihm ins Kinderzimmer. Verdammt. Er hat’s begriffen.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de