Ein Rest Menschenliebe

■ Entrümpelt: Werner Schwabs „Volksvernichtung“ am Thalia

Die Figuren des Werner Schwab sprechen nicht. Sie werden gesprochen. „Du bist in eine Lebenskrankheit eingesperrt,“ sagt die Frau Wurm zu ihrem verkrüppelten, talentlosen Sohn Herrmann. „Der Idiot an sich bleibt was er ist und verschleimt sich in eine Theologie“, wettert die Hausbesitzerin Grollfeuer. Sprache statt Psychoanalyse. Das Grauen des Kleinbürgertums ersteht in Wortgeröllhaufen vor unseren Augen und zeigt seine Fratze. Dummheit, Inzest, menschenverachtender Hass, Faschismus, Österreich?

Bar der Derbheit und Fleischlichkeit so vieler Schwab-Inszenierungen sehen wir bei Thomas Bischoffs Regiearbeit zu Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos, die im Rahmen eines Gastspiels von der Berliner Volksbühne während der Autorentheatertage im Thalia Theater zu sehen war, ein streng formalisiertes Sprachgebäude. Es belebt sich in die Bühne hi-nein durch wenige Gesten und unheilvolle Blicke des grandiosen Ensembles.

In dem braun gekachelten Bühnenraum Uta Kalas, der mal Kirche, mal Kerker scheint, hat sich das Horrorkabinett einer Hausgemeinschaft eingerichtet. Frau Wurm (grandios: Karin Neuhäuser) und ihr debiler Sohn Hermann, bei Milan Peschel mit leerem Blick und offenem Mund, ein verhinderter Maler, haben in jahrzehntelanger Symbiose gelernt, sich bis aufs Blut zu beleidigen. Und wenn der Vater der Familie Kovacic (Hans-Werner Leupelt) die Szene betritt, raffen seine beiden Töchter (Sabine Fengler, Cordelia Wege) ihre Strumpfhosen schnellstens über die Hüften. Sie alle beflügeln die „Untermensch“-Phantasien der Gynäkologenwitwe und Hausbesitzerin Grollfeuer (Jennifer Minetti). Alkohol ist ihr Sanitäter in der Not des täglichen Lebensekels. Am Ende wird die Gruselwitwe zur Giftmischerin und bringt die Hausbewohner bei einer Geburtstagsfeier um die Ecke.

Wie immer sind die Sprachatta-cken des Österreichers Schwab reich an Ausscheidungsvokabular und von oft brachialer Komik. Doch so virtuos er mit Dialekten, Neologismen, Paradoxa und Silbenvertauschungen spielt, so gekonnt transportieren die Worte seine Gedanken über Humanismus und Aufklärung, unter denen immer ein Rest Menschenliebe hervorglimmt. Der „Punk“ der deutschen Autorenlandschaft erzielte mit Volksvernichtung den Durchbruch. 1992 erhielt er den Mühlheimer Dramatikerpreis. 1994 erlag er 35-jährig einer Alkoholvergiftung. In Bischoff hat er einen Regisseur gefunden, der zehn Jahre nach der Uraufführung der Kraft seiner Sprache vertraut und ihr in einem drastischen Naturalismus auf der Bühne ein angemessenes Gegenüber verschafft.Annette Stiekele