Die Vorschau
: Kriminalistik des Exilschriftstellers

■ Der Literaturförderpreisträger Norbert Gstrein liest aus „Die englischen Jahre“

Alles scheint seltsam entspannt. Kaum vorstellbar, dass sich heute irgendwo ein literarischer Skandal entwickelt wie weiland anlässlich des Bernhardschen Stückes „Heldenplatz“.

Für einen Skandal wäre der 1961 in Mils/Tirol geborene Autor Norbert Gstrein wohl auch kaum zu haben. Und doch gibt es Verbindungen zu dem Bernhard-Text und zwischen der Biografie Erich Frieds und Gstreins 2000 erschienenen „englischen Jahren“. Es geht um jüdische Intellektuelle, die Ende der 30er nach England emigrierten. Es geht um ihr Leben, Fragen der Identität – und darum, ob man zurückkehren soll.

Auch wenn es wenig Sinn macht, von einer österreichischen Literatur zu sprechen, gibt es so etwas wie einen spezifisch österreichischen Zug in den Texten Norbert Gstreins. In seiner Debüterzählung „Einer“, für die er 1989 den Bremer Literaturförderpreis erhielt oder auch in seinem ersten Roman „Das Register“ wirft er einen klaren Blick auf Provinz, auf Familiengeschichten und auf strukturelle Überbleibsel des klerikalfaschistischen Österreich der späten 30er und frühen 40er Jahre. Ähnlich wie in einigen Texten seiner Landsfrau Elfriede Jelinek scheint viel Untergründiges in den „heilen“ provinziellen Lebenswelten auf. Anders ist allerdings Gstreins Diktion: Hart, knapp, sperrig schreibt er und macht uns zu Mitwissern, ja zu Mitkonstrukteuren der agierenden Personen und ihrer Lebensläufe.

Mit der Stimme einer jungen Frau beginnen „Die englischen Jahre“. Sie verfolgt die Spur des im Sommer 1940 in Southend-on-Sea gestorbenen, aus Österreich stammenden Schriftstellers Gabriel Hirschfelder. Der Roman setzt in dem Moment an, wo Margarets Nachforschungen sich vom Anekdotischen, vom Mythos eben zu lösen beginnen. Sie will nahe heran an diesen Toten. Sie sucht nach der „Geschichte, die aus dem Pappkameraden einen wirklichen Menschen macht.“

Geschickt und fast kriminalistisch im Drängen der Nachforschungen, bündelt Gstreins Roman die Geschichte(n) des nicht gerade bekannten Kapitels des englischen Exil und dessen Nachwirkungen. Es ist ein Roman der Retrospektion, der über seine eigene Existenz nachzudenken scheint. Grüblerisch, aber auch liebevoll im Umgang mit den alten Menschen laufen die „englischen Jahre“ auf die Fragen zu, was am Ende eigentlich ein Leben ausmacht. Tim Schomacker

Norbert Gstrein liest heute um 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13