speichenbruch
: Die Tour war noch nie frei von Betrug

Doping, Juckpulver und Schmirgel

„Die Tour ist tot.“ Die Schlagzeile mutet zeitgemäß an. Schon das Eingreifen der Behörden bei der Frankreichrundfahrt 1998, in dessen Folge die Ausmaße des EPO-Dopings unter den Radprofis publik wurden, mochte manche Kommentatoren zu solch düsterer Bestandsaufnahme getrieben haben. Und auch nach der Drogenrazzia beim diesjährigen Giro d’Italia, die daran erinnerte, dass Doping nicht Ausnahme, sondern Regel ist im Radsport, mag manch einer der glorreichen Frankreichrundfahrt, die morgen beginnt, keine große Zukunft mehr zubilligen.

Die Zeile von der toten Tour allerdings ist wesentlich älter und stammt aus dem Jahr 1904, geschrieben von Tour-Begründer Henri Desgrange in L’Auto, der Vorläuferzeitung von L’Equipe. 1903 hatte Desgrange die Tour de France ins Leben gerufen, als Werbegag und Spektakel, mit dessen Hilfe er versuchen wollte, den Hauptkonkurrenten, die Zeitschrift Velo, vom Markt zu drängen. Doch die Marketingkampagne schlug fehl, die erste Tour fand kaum Interesse beim Publikum, die zweite im Jahr 1904 war gar mehr dazu angetan, das Image der Zeitung zu beschädigen, denn zu fördern. Die engagierten Fahrer, die sich um die 3.000 Franc Preisgeld stritten, stellten sich nämlich als wüste Ganoven heraus: So ließ sich Favorit Hippolyte Aucouturier über lange Strecken vom Auto ziehen, die ersten Vier der Schlusswertung hatten sich ihren Sieg gar komplett erschlichen, in dem sie die damals noch üblichen Nachtfahrten im Zug statt auf dem Fahrrad bewältigten. Ihren Hauptkonkurrenten Henri Cornet, der später zum Sieger erklärt wurde, hatte die Viererbande auszuschalten versucht, in dem sie sein Abendessen in Schlafmittel getränkt hatten. Cornet schlief tatsächlich auf dem Rad ein und stürzte in den Straßengraben, auch weitere Bewerber wurden schikaniert, indem man ihnen Abführmittel in die Trinkflasche goss, Schmirgel in die Rennhose streute oder Juckpulver ins Trikot.

Die Tour war natürlich trotz alledem nicht tot. Sie ging weiter und wurde zu einer der größten Sportveranstaltungen der Welt, obwohl sich am Geist des Rennens nichts Wesentliches geändert hat. Und obwohl die Tour immer mal wieder inne hält und sich besinnt. So wie 1967, als der Engländer Tom Simpson am Anstieg zum Mont Ventoux nach Einnahme eines ungenießbaren Dopingcocktails tot aus dem Sattel fiel. Oder eben wie nach der Tour 1998, als man an den ebenso branchenüblichen wie unappetitlichen Dopingpraktiken einfach nicht mehr vorbeisehen konnte.

Der Aufschrei ist zu solchen Anlässen groß. Den Betrieb aufzuhalten vermag solch periodische Entrüstung indes nicht. Als „eine Fahrradbremse an einem Interkontinentalflugzeug“, bezeichnet der Berliner Sportsoziloge Eugen König die Rolle der Ethik im Sport. 65 Prozent der Franzosen wollten nach Bekanntwerden des Etappendeals zwischen Richard Virenque und Jan Ullrich sowie nach den Vorgängen beim Giro, dass die Tour abgehalten wird wie immer. Illusionen darüber, wie ernst es dem Milieu mit der Fairness ist, machten sie sich dabei nicht: 66 Prozent hielten die Anschuldigungen von Bruno Roussel gegen Ullrich und Virenque für wahrscheinlich. Die Fans haben verstanden, was den Moralisten noch immer entgeht: Doping und Betrug sind kein „schwarzer Schatten“ der sich über den guten, reinen Radsport legt, sie gehören untrennbar dazu – und das von Anfang an.

Die Fans wollen damals wie heute ihr Spektakel – um welchen Preis ist ihnen egal. Sie wollen die Tour, wie sie ist, Doping hin oder her. Den Kritikern und Moralisten auf der anderen Seite rät Eugen König, Doping und Betrug als essenziellen Teil des Geschehens zu akzeptieren, so wie es auch die Fans tun – kritisieren könne man nur das Ganze: „Doping wird von seinen sportethischen Kritikern als Verrat der Idee des reinen Sports und somit als Fehlentwicklung dramatisiert und somit zugleich verharmlost – damit wird die aufklärerische Chance vertan, am Beispiel des Dopings wesentliche Merkmale des Sports zu erkennen.“ Gemeint ist die Lust an der Freakshow: Die bärtige Frau Radsport befriedigt das schier unstillbare Verlangen des Publikums nach dem Abnormen, nach der Vorführung von Leistungen, die sich der Vorstell- und Erklärbarkeit entziehen. Hinter der Forderung nach einem moralisch-reformierten Spektakel steckt hingegen die Sehnsucht nach reuefreier Sünde, wie nach einer zuckerfreien Cola oder einer niktotinfreien Zigarette. Doch Radsport, das dürfte nach rund 100 Jahren deutlich geworden sein, ist nicht mit dem Ablassetikett „Du darfst“ zu haben. SEBASTIAN MOLL