Last Minute wird zum Luxus

Mit neuem Preissystem gegen Auto und Flugzeug: Bahnfahren soll einfacher und billiger werden, wenn die Kunden im Voraus buchen

von BERNHARD PÖTTER

Ein normaler Zugschaffner riskiert für solche Aussagen eine Abmahnung: Ein „undurchschaubarer Tarifdschungel“ habe sich bei der Bahn ausgebreitet, das Preissystem sei „grottenschlecht“. Doch gestern kam die Unternehmensschelte von ganz oben: Hans Koch, Bahnvorstand für Marketing, und Anna Brunotte, Leiterin des Projekts „Neues Preissystem“, verdammten die bisherige Praxis der Ticketverkäufe bei der Bahn, weil vom Herbst 2002 an alles besser werden soll. Bahnchef Hartmut Mehdorn verkündete ein neues Preissystem der Bahn im Fernverkehr: „Wir werden das Bahnfahren neu erfinden.“

Das stimmt zumindest für die Kunden. Denn der Bahnnutzer muss sein Verhalten grundlegend ändern, wenn er in Zukunft günstig auf der Schiene fahren will. Vorausschauend planen und buchen, möglichst in Gruppen unterwegs sein oder die ganze Familie mitnehmen und bloß keine Züge verpassen – so kann der Bahnkunde viel Geld und Ärger sparen. Wer bis zu sieben Tage vorher seine Reise bucht, eine Bahncard hat und jemanden mitnimmt, kann bis zu 66 Prozent des Fahrpreises sparen (siehe Grafik). Wer hingegen ungeplant auf den Zug springt, kann auch mit der Bahncard nur noch 25 statt wie bisher 50 Prozent Fahrpreisermäßigung erhalten.

„Spontaneität wird teuer“, heißt der neue Grundsatz der Bahn. Gerade das ist die Kritik von Verkehrsexperten: Die schnelle Entscheidung, die das Bahnfahren ausmache, werde immer schwieriger, das Auto werde so bevorzugt.

Das größte Problem hat das Unternehmen, das seinen Umsatz bis 2005 im Personenverkehr um 20 Prozent steigern will, mit überfüllten und leeren Zügen. Von 100 Sitzen eines DB-Zuges sind im Schnitt nur 42 besetzt, am Freitag- und Sonntagnachmittag dagegen stapeln sich die Menschen in den Waggons. Neue Wagen nur für diese Spitzenzeiten anzuschaffen sei nicht rentabel, erklärte Koch gestern. Also sollen die Fahrgäste verteilt werden: Für die einzelnen Züge gibt es Kontingente (siehe Grafik). Sind die ausgeschöpft, müssen die Kunden mehr bezahlen oder einen anderen Zug nehmen. Anders als beim Flugzeug oder beim Schnellzug TGV in Frankreich werden aber Tickets auch verkauft, wenn die Züge ausgebucht sind – nur eben ohne Sitzplatzgarantie und teurer. „Wer will, kann weiter einsteigen“, sagte Mehdorn.

„Für Millionen Menschen wird Bahnfahren billiger“, verspricht der Bahnchef. Anders als bisher soll die Bahncard auch bei allen Sonderpreisen wie dem Frühbucherrabatt oder dem Mitfahrerrabatt gelten. „Wir werden das neue Preissystem nicht dazu nutzen, heimlich die Preise zu erhöhen“, heißt es weiter. Wer seinen billig im Voraus gebuchten Zug verpasst, hat allerdings ein Problem: Der Umtausch kostet Geld, im späteren Zug muss er voll bezahlen. Verpasst man seinen Anschlusszug durch Probleme bei der Bahn, will die Bahn Kulanz walten lassen. Schaffner sollen elektronisch in der Lage sein, Verspätungen im gesamten Netz zu verfolgen, so Mehdorn. Noch aber ist das Zukunftsmusik.

Mit dem neuen System will die Bahn ihren Kundenstamm drastisch vergrößern. Bisher stagniert die Zahl der Bahncard-Nutzer bei etwa 3 Millionen, für viele Bahnkunden rechnet diese sich nicht. Jetzt soll „die Bahncard in jeden deutschen Haushalt“, verkündet Mehdorn. Die Bahn will Kunden erreichen, die ihr fern stehen: Bisher sind bei dem Unternehmen nach Angaben von Vorstandsmitglied Koch 8 Prozent der Deutschen Stammkunden, 30 Prozent nutzen die Schiene gelegentlich, aber 60 Prozent fahren nie Bahn.

Das neue Preissystem ist auch ein Angriff auf die Konkurrenten: Der Wettbewerb mit dem Auto litt bisher darunter, dass Bahnfahren für Familien pro Kopf immer teurer wurde. Nun sollen Bahncard, Mitfahrerrabatt, Freitickets für Kinder bis 14 Jahre und Vorplanung die Urlaubsreise für eine vierköpfige Familie auf etwa drei Viertel des Preises für ein Normalticket drücken. Den Flügen will die Bahn durch „degressive“ Kilometerkosten Paroli bieten: Je weiter die Reise geht, desto billiger wird jeder Kilometer. „Siebzig Prozent unserer Kunden sind bereit, sich für Preisvorteile auf stärkere Vorplanung einzulassen“, sagt Anna Brunotte. Das zeige sich bereits bei dem Internet-Angebot der Bahn „surf & rail“ und dem neuen Gruppenpreis.

Verlierer des neuen Systems sind neben den spontanen Reisenden mit Bahncard auf einer Strecke unter 400 Kilometern vor allem die Pendler, die außerhalb von Verkehrsverbünden häufig Strecken um die 100 Kilometer fahren und bisher ihre Bahncard nutzen. Auch für Strecken, auf denen nur Nahverkehr herrscht, wie etwa zwischen Rostock, Berlin und Cottbus, können die Tickets teurer werden. Da müsse noch nachgebessert werden, monierten gestern die Umwelt- und Verkehrsverbände BUND und VCD sowie der grüne Verkehrsexperte Albert Schmidt. Zusammen mit den Ländern, die für den Nahverkehr zuständig sind, müssten diese Punkte geklärt werden.

Ansonsten aber gibt es Lob: „Attraktiver und familienfreundlicher“ werde die Bahn, preist Bahn-Aufsichtsrat Schmidt das neue System. BUND und VCD begrüßen, dass „für eine große Mehrheit der bisherigen Kunden Bahnfahren billiger wird und gleichzeitig neue Kunden gewonnen werden“. Umfragen hätten ergeben, dass das bisherige Preissystem zu unübersichtlich und die Tickets insgesamt zu teuer seien, um mehr Menschen auf die Schiene zu locken. Diesen Problemen stelle sich das neue Preissystem. „Die Bahncard muss sich aber zu einer Mobilitätskarte weiterentwickeln“, fordert der Verkehrsexperte des BUND, Tilman Heuser. So sollte die Bahncard auch die Benutzung von Taxis, Carsharing und Fahrradverleih verbilligen. Und ähnlich wie beim Lufthansa-Programm „miles & more“ sollten Vielfahrer einen Bonus bei Preis und Leistung bekommen.