„Der Westen hat Fehler gemacht“

„Ich habe seine Auslieferung für einen Fehler gehalten.“

Interview BETTINA GAUS

taz: Trotz heftiger Diskussionen weiß bisher offenbar niemand, wie ein Nato-Einsatz mit deutscher Beteiligung in Makedonien konkret aussehen könnte. Was halten Sie für ein realistisches Szenario?

Egon Bahr: Das ist wirklich schwer zu beurteilen, weil ich nicht weiß, was die Ergebnisse der Bemühungen in den nächsten Tagen sein werden. Wenn wir eine Verhandlungslösung hinbekommen, die es gestattet, mit dem Einverständnis aller Beteiligten Waffen einzusammeln, dann ist das ist eine völlig andere Situation, als wenn die Bemühungen scheitern.

Und wenn sie scheitern?

Dann ist meines Erachtens die Grundfrage der Stabilität in der gesamten Region gestellt. Diese Grundfrage besteht in der Übereinstimmung der De-facto- Protektoratsmächte, also der Fünfergruppe und einigen weiteren, die international anerkannten Grenzen unter das Prinzip des Gewaltverzichts zu stellen. Das heißt, sie sind nur in gegenseitigem Einvernehmen zu ändern. Wer sich dagegen wendet, muss automatisch damit rechnen, dass er von den Garantiemächten eins auf den Kopf kriegt.

Das wäre die politische Willenserklärung. Lassen Sie uns noch beim militärischen Szenario bleiben. Wenn die Bemühungen um eine friedliche Einigung scheitern sollten – könnte sich die Nato dann überhaupt noch heraushalten?

Es geht nicht nur um die Nato.

Diskutiert wird ein Nato-Einsatz.

Gut, das mag ja sein. Aber de facto geht es um die Nato, um die EU, mindestens um die Fünfergruppe – Russland und die anderen dürfen nicht ausgeschlossen werden. Die Nato darf sich nicht die Alleinzuständigkeit für die Region aneignen. Das wäre ein Grundfehler. Ob alle der im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina Beteiligten bereit sind, die Unversehrtheit Makedoniens zu garantieren und/oder unter Anwendung von Gewalt wieder herzustellen, weiß ich nicht. Ich würde es für notwendig halten.

Und wenn Russland nicht mitmachen will?

Das hängt vom Ergebnis von Bemühungen ab, die ich nicht im voraus überschauen kann. Übrigens: Moskau hat Helsinki und die Charta von Paris unterschrieben. Da steht das Prinzip von der Unantastbarkeit der Grenzen drin.

Bedeutet das, was Sie sagen, nicht in der Konsequenz, dass Sie bei einem internationalen Militäreinsatz ein UNO-Mandat für unverzichtbar halten?

In der augenblicklichen Situation würde ich es für notwendig halten. Ich hielte es für eine Hilfskonstruktion, wenn nur die Regierung in Skopje um Militärhilfe bittet.

Aber die Nato hat ja ein Unterstützungsabkommen mit Makedonien. Kann man sich einer Bitte um Unterstützung dann überhaupt entziehen?

Das ist eine schwierige Frage der politischen Abwägung. Ich gehe davon aus, dass man aus diesem Unterstützungsabkommen Konsequenzen ziehen wird. Das erspart viele Komplikationen.

Welchen Anteil hat denn die Nato aus Ihrer Sicht daran, dass sich die Lage in Makedonien überhaupt dahin entwickeln konnte?

Es ist, glaube ich, kaum zu bestreiten, dass der Westen insgesamt in der Behandlung der UÇK Fehler gemacht hat. Ich erinnere mich noch sehr genau, dass die Amerikaner einmal gesagt haben, sie wollten nicht zulassen, dass die UÇK die Nato als ihre Luftwaffe benutzt. Was ist daraus geworden? Exakt das, was die Amerikaner abgelehnt haben, ist geschehen. Ich glaube, der Westen hat sich missbrauchen lassen. Der nächste Punkt ist: Wir haben nicht konsequent genug entwaffnet.

Nun besitzt die UÇK nach wie vor US-amerikanische Waffen, und es sind auch ehemalige US-Offiziere an der Ausbildung der Guerilla beteiligt. Glauben Sie, dass es innerhalb der USA hinsichtlich der Balkanpolitik widerstreitende Kräfte gibt, und glauben Sie, dass Europa und die USA in der Region tatsächlich dieselben Interessen verfolgen?

Ich könnte mir vorstellen, dass es in Washington unterschiedliche Interessen gibt. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Ich kann ja nicht darüber hinwegsehen, dass die Amerikaner auch ihre Meinung ändern. Niemandem darf verwehrt sein, klüger zu werden. Wenn die Völkergemeinschaft Jugoslawien übernommen und zu einem De-facto-Protektorat gemacht hat, dann schließt das die Garantie der Stabilität, das heißt: des Nichtkrieges ein. Wenn ich diese vornehmste Pflicht nicht erfüllen kann, dann muss ich abziehen. Und wenn ich abzöge, müsste ich einkalkulieren, dass die sich alle wieder an die Kehle gehen und den Zustand wiederherstellen, wegen dessen man interventiert hat.

Aber würde nicht eine Präsenz der Nato in Makedonien unvermeidlich zu einer faktischen Teilung des Landes führen?

Nein. Der Auftrag könnte nur sein, die Unversehrtheit der staatlichen Grenzen wieder herzustellen, die durch die Aktionen der UÇK verändert worden sind.

Wäre nicht eine Teilung schon deshalb die – vielleicht ungewollte – Konsequenz eines Einsatzes, weil sich die Nato ja zwangsläufig nur in den Kampfgebieten aufhalten würde?

Die Vereinbarung, von der wir am Anfang gesprochen haben, kann doch nur beinhalten, dass die UÇK ihre Waffen abgibt, sich zurückzieht, damit angriffsunfähig wird und die Nato und andere Verbände an der legalen Grenze stationiert werden, um zu verhindern, dass von dort Nachschub hereinkommt.

Was sollte die UÇK veranlassen, dem zuzustimmen?

Die Einsicht in die Aussichtslosigkeit des bisherigen Vorgehens.

Aber die UÇK hat doch gewonnen.

Bisher ja. Aber wenn man ihr klarmacht: Bis hierher und nicht weiter, sonst habt ihr den Rest der Welt gegen euch, dann werden selbst die Verrücktesten einsehen: Es nützt nichts, wir müssen.

Womit wir wieder bei der Frage nach der Haltung der USA wären. Sie glauben also, dass inzwischen auch Washington ebenso wie Europa ein Interesse an der Entmachtung der UÇK hat?

Ja, und zwar aus dem einfachen Grund, weil auch der Ruf der USA auf dem Spiel steht. Die Region ist dazu verdammt, stabilisiert zu werden. Der Westen und die anderen Beteiligten sind dazu verdammt, die Region zu stabilisieren. Es gibt keinen Ausweg als den Weg nach vorne, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, diese Region nach Europa zu orientieren und europafähig zu machen.

Alle wünschen sich den friedlichen Einsatz – aber alle fürchten auch, dass er sich nicht erreichen lässt. Gibt unsere Verfassung die Teilnahme der Bundeswehr an einem Bodenkrieg her?

Im Kosovo war der Einsatz von Bodentruppen ausgeschlossen, und es ist das Verdienst von Bundeskanzler Schröder, dem amerikanischen Präsidenten Clinton das hinter verschlossenen Türen unmissverständlich deutlich gemacht zu haben. Die Lage in Makedonien wäre von anderer Qualität. Wenn wir die Unversehrtheit der Grenzen garantieren, dann müssen wir auch bereit sein, das eigene Militär zur Durchsetzung dieser Garantie einzusetzen.

Finden Sie, dass die Diskussion über einen Militäreinsatz in Makedonien zu zu sehr unter militärischen und zu wenig unter politischen Gesichtspunkten geführt wird?

Ja.

Was halten Sie denn für die politischen Grundvoraussetzungen?

Die bereits genannte Garantie aller beteiligten Staaten für die Unversehrtheit der Grenzen. Wenn ich einmal akzeptiere, dass eine Grenze mit Gewalt verändert wird, dann weiß ich nicht mehr, wo das endet. Wie soll ich der Republik Srpska dann verbieten, sich mit Serbien zusammenzuschließen? Wie soll ich den Albanern verbieten, sich mit Albanien zusammenzutun? Was ist eigentlich mit der Wojwodina? Die Grenzgarantie muss aber einhergehen mit einer Vereinbarung, der zufolge die Minderheiten auf jeder Seite jeder Grenze die gleichen Rechte haben. Beides kombiniert ist die Basis für Stabilität.

Gegen die Forderung nach der Unverletzlichkeit der Grenzen wird immer wieder mit dem Selbstbestimmungrecht der Völker argumentiert. Was antworten Sie darauf?

Das ist eine Heuchelei. Wir haben das deutsche Recht auf Selbstbestimmung auch reklamiert, aber wir haben dieses Recht unter den Gewaltverzicht zur Veränderung bestehender Grenzen gestellt. Das war der Kern des Moskauer Vertrages: unser Anspruch ist offen geblieben, aber nicht mit Gewalt. Ich habe schon damals gesagt: Wenn ich das vom deutschen Volk verlange, kann ich das auch von anderen Völkern verlangen. Frieden ist noch wichtiger als Selbstbestimmung.

Was halten Sie denn unter dem Gesichtspunkt der Stabilisierung von der Auslieferung Milošević’ nach Den Haag?

Ich habe sie für einen Fehler gehalten. Wir haben 1945 mit dem Vorwurf gelebt, dass das deutsche Volk nicht fähig gewesen ist, Hitler allein loszuwerden. Das Ergebnis waren die Nürnberger Prozesse. Anders als das deutsche Volk war die jugoslawische Bevölkerung fähig, Milošević loszuwerden. Insofern haben sie einen Nachweis ihrer – ich sage mal: demokratischen Reife erbracht. Das hätte der Westen honorieren müssen und sagen müssen: Chapeau, nun stellt ihn auch vor Gericht. Dann werden wir ja sehen. Ich hätte mir gewünscht, dass nicht das Gefühl der möglichen Demütigung in der serbischen Bevölkerung entsteht. Das ist nicht in Ordnung.

Sie halten die Auslieferung also nicht für eine Stärkung des Völkerrechts?

Ich halte es nicht für eine Stärkung der demokratischen, selbstbewussten Entwicklung des serbischen Volkes.

Stehen Sie Einrichtungen wie Internationalen Gerichtshöfen grundsätzlich skeptisch gegenüber?

Nein. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Zuge der Globalisierung auch globale Regeln haben müssen und alle beteiligten Staaten sich verpflichten, ihre nationale Gesetzgebung dem unterzuordnen. Aber das wird nicht funktionieren, solange die USA sich weigern, amerikanische Staatsbürger vor internationale Gremien stellen zu lassen.