Das Virus bleibt agil

Aidsärzte prognostizieren einen Wiederanstieg von HIV-Infektionen in Berlin. Grund: Die Sorglosigkeit insbesondere bei Jugendlichen und die fehlende Spezialbetreuung für Migranten

von DUNJA ALFERMANN

Die Zahl der HIV-Infektionen wird in Berlin wieder steigen. Das prognostizierte gestern auf dem achten deutschen Aidskongress der Arzt einer HIV-Schwerpunktpraxis, Jörg Gölz. Seit gut einem Jahr verzeichnet er einen Anstieg der Jugendlichen, die wegen einer HIV-Infektion seine Praxis aufsuchen. Nur eines von vielen Indizien für den Arzt, dass nach jahrelanger Stagnation, die Neu-Infizierungen mit HIV wieder ansteigen.

Seine Praxis ist eine von zehn, die zusammen mit zwei Krankenhäusern, Pflegediensten und den Universitätskliniken das „Schöneberger Modell“, bilden. Das 1987 in enger Kooperation mit dem Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVK) gegründete Modell sollte der Diskriminierung von HIV-Infizierten in Krankenhäusern beenden. Darüber hinaus sollen „die Patienten so lange wie möglich ambulant behandelt werden“, so Keikawus Arastéh, Leiter der Aidsabteilung am AVK und Kongressvizepräsident.

Aber auch dieses Versorgungsnetz hat Lücken. Denn nicht für jeden Infizierten kann es Anlaufstelle sein. So wird nach den Worten von Jörg Gölz die fehlende Versorgung der HIV-infizierten Migranten aus der Dritten Welt zu einem deutlichen Anstieg von Neuinfizierungen führen. Der epidemiologische Bericht des Robert-Koch-Instituts zum Jahresende 2000 stellt fest, dass inzwischen die Migranten mit 20 Prozent zur zweitgrößten Gruppe der HIV-Infizierten in der BRD gewachsen sind. Laut Gölz sind allein von den 10.000 Afrikanern, die in Berlin leben, etwa 1.000 HIV-infiziert. Nur ungefähr 140 sind in Behandlung.

Durch die weltweite Migration werde sich ein Teil der HIV-Epidemie in die europäischen Ballungsgebiete – also auch nach Berlin – verlegen. Angesichts dessen sei das Beratungssystem für diese Patientengruppe in Berlin katastrophal, diagnostiziert Gölz. Gegenüber anderen Ballungszentren, etwa in Portugal oder London, die die Migranten in ihre Versorgungssysteme integriert hätten, hinke Deutschland extrem hinterher. Deswegen fordert das „Schöneberger Modell“ von Ärzten und Beratern mehr kulturspezifische Kenntnisse – etwa Sprache, Traditionen und Religionen.

Zum Anstieg von Neuinfizierungen wird auch die neue Sorglosigkeit in der Gesamtbevölkerung gegenüber einer Ansteckung mit HIV führen, so Gölz. Die Jugendlichen und Erwachsenen würden sich auf die Wirksamkeit neuer Medikamente verlassen. Bisher können diese aber lediglich die Lebenserwartung eines Infizierten verlängern, betont der Arzt. Sowohl in der Schwulenszene als auch bei Heterosexuellen werden Kondome seltener benutzt als zu Zeiten, wo das Thema Aids in aller Munde war, beklagt auch Arastéh. Auffällig sei auch der starke Rückgang von freiwilligen Aidstests. Deswegen gehöre die Aidsaufklärung wieder mehr in die Öffentlichkeit.