first service
: Justine Henin rettet den Volley

Lara Croft mit Tennisschläger

Die alten Stars des Tennissports sind hingerissen von Justine Henin. „Eine Rückhand für die Puristen“, schwärmt Virginia Wade über den einhändig ausgeführten Paradeschlag der 19-Jährigen, die heute im Finale von Wimbledon gegen Titelverteidigerin Venus Williams ihren rasanten Aufstieg der letzten beiden Monate krönen will. „Die beste Rückhand im Tennis, egal ob Männer oder Frauen“, pflichtet John McEnroe bei. Am meisten imponiert dem US-Amerikaner jedoch, dass die Belgierin eine Variante beherrscht, die charakteristisch für sein eigenes Tennis war: „Ihr Mut, bei wichtigen Punkten Serve and Volley zu spielen, ist bewundernswert.“

Tatsächlich war es die Vielseitigkeit der schmächtigen Technikerin, die das Halbfinale gegen Jennifer Capriati kippen ließ und die Cinderella-Story des Jahres damit vorläufig beendete. Capriati, nach einer langen Zeit sportlichen Misserfolgs in diesem Jahr mit den Siegen bei Australian Open und French Open endlich so erfolgreich, wie man es ihr 1991, als sie schon einmal in einem Wimbledon-Halbfinale stand, allenthalben prophezeite, wird den Grand Slam 2001 nicht gewinnen. Trotz der bitteren Niederlage in einem Match, das sie zunächst beherrschte, zog die 25-Jährige nicht unzufrieden von dannen. „Alle haben eine große Sache aus dem Grand Slam gemacht, ich nicht“, meinte sie.

Justine Henin ist zwar keine reine Serve-and-Volley-Spielerin, wie es die früheren Wimbledonsiegerinnen Martina Navratilova und Jana Novotna waren, umso effektiver ist die Variante, wenn sie diese überraschend einsetzt. Damit gehört sie einer Spezies an, die immer seltener zu werden scheint im Tenniszirkus. Bei den Frauen sowieso, wo sich selbst Venus Williams, die mit ihrem wuchtigen Aufschlag und ihrer Größe prädestiniert scheint zur Angriffsspielerin, kaum ans Netz vorwagt. Aber auch bei den Männern. Andre Agassi, der immer alles ganz genau weiß, hat 85 Grundlinienspieler im Starterfeld der 124 gezählt, mehr als jemals zuvor.

Erst im Halbfinale waren dann mit Pat Rafter, Tim Henman und Goran Ivanisevic die Aufschlagkünstler fast unter sich. Bis auf Agassi natürlich, den einzigen Baseliner, der seit Jimmy Connors 1982 Wimbledon gewonnen hat. In diesem Jahr traf er bis zum Halbfinale auf keinen einzigen der Furcht erregenden Servierer. Dafür sorgte er für ein komplett nikolausfreies Feld, indem er nacheinander Nicolas Massu, Nicolas Kiefer und Nicolas Escude aus dem Turnier warf. Wie wohl die Wetten für ein solches Vorkommnis stünden, wurde er gefragt. „Ich bin sicher, in England findet ihr jemanden, der das ganz genau weiß“, lautete die Antwort.

Wie die Chancen standen, auf den starken Escude oder auf Kiefer schon in Runde eins zu treffen, ließ sich indes exakt bestimmen: null. Die zahlenmäßige Übermacht der Grundlinienspieler schlägt sich inzwischen nämlich auch sportpolitisch nieder. „Es gibt viel zu viele Sandplatzturniere“, sagt der Australier Pat Cash, der 1987 Wimbledon gewann. Gustavo Kuerten, Alex Corretja, Juan Carlos Ferrero, Sebastien Grosjean heißen die Helden des Frühsommers und die lange Sandplatzsaison drückt sich natürlich auch in der Weltrangliste aus. Da Wimbledon nur zwei Wochen nach den French Open statt findet, bleibt kaum Zeit zur Korrektur, es wimmelt also von Grundlinienspezialisten, während viele Angriffsspieler so weit abgerutscht sind, dass sie es nicht einmal ins Hauptfeld schaffen.

In der Vergangenheit hatten die Organisatoren diesen strukturellen Missstand wenigstens teilweise dadurch korrigiert, dass sie eine eigene Setzliste erstellten, in der die Fähigkeiten der Spieler auf Rasen berücksichtigt wurden. Die mit Boykottdrohungen garnierte Rebellion der Baseliners hat das zwar nicht ändern können, aber sie schafften es, dass die Zahl der Gesetzten von 16 auf 32 erhöht wurde. „Damit haben sie die erste Woche komplett ruiniert“, schimpft Pat Cash über diesen Artenschutz für versierte Sandwühler, die sich so trotz ihrer Grasaversion wenigstens eine Weile im Turnier halten können: Die 32 Gesetzten konnten frühestens im Achtelfinale aufeinander treffen, eine Partie Thomas Haas (Setzliste: 17) gegen Pete Sampras (1) war ebenso unmöglich wie etwa ein Erstrundenmatch zwischen Todd Martin (23) und Patrick Rafter (3) oder Jennifer Capriati (4) und Anke Huber (18).

Tatsächlich blieben Überraschungen bis zum Achtelfinale weitgehend aus, und viele Matches waren äußerst einseitig. Nur Martina Hingis tanzte mal wieder aus der Reihe. Die in der ersten Runde ausgeschiedene Schweizerin hätte eigentlich heute im Finale gegen Venus Williams stehen sollen. Mit Justine Henin hat sie jedoch eine würdige Vertreterin gefunden. Die Belgierin ist eine Art Hingis mit Lara-Croft-Turbo und hat durchaus das Zeug, nicht nur den Niedergang des Volleys aufzuhalten, sondern die Hingis-Vertretung in nicht zu ferner Zeit auch auf die Spitze der Weltrangliste zu erstrecken.

MATTI LIESKE