: Ausnahmezustand in China
Prüfungsstress: Viele Eltern wollen ihren Kindern alle Sorgen neben der Schule abnehmen und setzen sie damit nur zusätzlich unter Leistungsdruck
aus Peking GEORG BLUME
Mütter werden ohnmächtig, Väter zittern wie beim Fußball, Lehrer beten für ihre Schüler: In China herrscht ab heute für drei Tage der pädagogische Ausnahmezustand. Sonderbusse fahren im so genannten Schwarzen Juli durchs Land, Baustellen stehen still, Hotelbetten sind überbucht – und das alles nur damit Schüler rechtzeitig zur Schule kommen, kein Lärm in ihre Klassen dringt und der Nachwuchs am Ende des Tages eine ruhige Nacht verbringt.
Wie früher zur Zeit der Kaiserreiche, als einmal im Jahr die Mandarinatsprüfung für den Staatsdienst abgenommen wurde, finden heute einmal im Jahr die nationalen Hochschulprüfungen statt. Dann zeigt sich China als das, was es immer war: eine erstaunlich effiziente, egalitäre Erziehungsdiktatur.
„Sechs Monate habe ich mir keine freie Minute gegönnt.“ Der Pekinger Oberschüler Wang Tong, äußerlich ein cooler Madonna-Fan im schwarzen Jeansanzug, hat vor der Prüfung nichts dem Zufall überlassen. Eifrig studierte er bis gestern die „Militärische Strategie für Hochschulprüfungen“, einen klein gedruckten 300-Seiten-Wälzer mit allem, was der Chinese wissen muss, um an die Universität zu dürfen. Wang will ab September Kunst studieren. Dafür braucht er 450 von 750 möglichen Punkten.
Bis Montag währt der Prüfungsstress, wegen der psychischen Belastungen hat die Periode die Bezeichnung „Schwarzer Juli“ erhalten. Annähernd vier Millionen Kandidaten treten an. Von ihnen wird etwa die Hälfte einen Studienplatz bekommen – das ist ein hoher Durchlauf im Vergleich zu früheren Jahren, als nur ein Viertel die Prüfung bestand. Tatsächlich hat sich die Zahl der neu zu vergebenen Studienplätze in China seit 1998 von 1,08 auf 2,2 Millionen pro Jahr verdoppelt. Aber immer noch hängt über den Schülern ein Damoklesschwert. Denn wer durchfällt, hat meist die Chance zu einer höheren Ausbildung vertan. Nur eine geringe Zahl reicher Eltern kann ihren Kindern mehrere Prüfungsanläufe ermöglichen. Hinzu kommt, dass man nur beim Erreichen bestimmter Punktzahlen das Fach seiner Wahl studieren darf. Wer bei der Prüfung besteht, aber sein Punktziel nicht erreicht, kann einem anderen Studiengang zugeteilt werden.
Für Arbeiterkind Wang steht nicht nur seine, sondern auch die Zukunft seiner Eltern auf dem Spiel. Die werden bald nur die niedrige Rente ihres Staatsbetriebs erhalten. Einen Aufschwung für die Ein-Kind-Familie aber kann es nur geben, wenn der Sohn mal eine gut bezahlte Stellung erhält – ohne Studium ist das zur Zeit fast aussichtslos.
Also tun die Eltern alles für ihr Kind: Wang haben sie „Gehirntabletten“ angeboten und Geld gegeben, damit er tagsüber in einem Hamburger-Restaurant einen Tisch zum Üben findet. Auch ein Hotelbett wäre für Wang drin gewesen. Das gehört vor der Prüfung zum üblichen Elternservice, ebenso wie die Versorgung mit der richtigen Nahrung. Statt der in Deutschland üblichen Schokoriegel, die in China schwer erhältlich sind, werden auf einer Eltern-Internetseite „Walnüsse und Sonnenblumenkerne“ als Zwischenmahlzeit empfohlen.
Wang ignoriert solche Angebote. „Meine Eltern sind verrückt. Sie reden von nichts anderem mehr, obwohl sie von den Prüfungsfragen keine Ahnung haben“, berichtet der Oberschüler. Doch kalt lässt ihn die häusliche Aufregung auch wieder nicht. Wie viele Jugendliche scheint er sich für den Fall, dass er die Prüfung nicht besteht, mehr Sorgen um seinen Gesichtsverlust vor den Eltern als um die eigene Zukunft zu machen.
So addiert sich das Psycho- zum Prüfungsdrama. Eltern wollen ihren Kindern alle Sorgen neben der Schule abnehmen und setzen sie damit unter zusätzlichen Leistungsdruck. Als vor zwei Jahren ein 17-Jähriger seine Mutter mit dem Hammer erschlug und anschließend reuevoll gestand, er habe es nicht ertragen können, dass die Eltern außerhalb der Prüfungsvorbereitungen keine seiner Leistungen anerkannten, reagierte die Nation mit Entsetzen; in vielen Familien scheint das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ähnlich zu sein.
Das Engagement für Erziehung kennt in China keine Grenzen, auch weil es der einzige Weg nach oben ist, der allen offen steht. „Chinesische Eltern geben ihr ganzes Vermögen für die Erziehung aus“, beobachtet Li Tayang, Direktor einer Pekinger Mittel- und Oberschule mit 2.500 Schülern. Aus Mangel an Eigenmittel für den Computerankauf schlug Li im letzten Jahr vor, Klassen für Schüler mit eigenem Laptop einzurichten. Der Direktor dachte notgedrungen an einen „Computer-Unterricht für Reiche“, doch staunte nicht schlecht, als „gerade die Kinder von den Arbeitslosen der Staatsbetriebe mit dem Computer unter dem Arm zur Schule kamen“.
So war das in China immer. Die Schule ist der Stolz der Nation. Nach Himmel, Erde, Kaiser und Eltern steht der Lehrer als Fünfter in der alten Rangordnung des Konfuzianismus. Um sie zu zerstören, befahl Mao Tsetung die Auflösung von Schulen und Universitäten. Das war in der Kulurrevolution von 1966/76, als kaum ein junger Chinese noch den Unterricht besuchte. Doch die Tradition rächte sich: „Der größte Fehler der Kulturrevolution war, dass wir die Zeit zur Ausbildung von Facharbeitern verloren“, verfügte Maos Nachfolger Deng Xiaoping. Seither explodiert das chinesische Bildungssystem. Derzeit unterrichten zehn Millionen Lehrer 215 Millionen Schüler an Grund- und Oberschulen. Allein in den vergangenen zehn Jahren wurden 54.000 neue Privatschulen gegründet, die den öffentlichen Schulen Konkurrenz machen sollen.
Die Prüfungshölle, die heute beginnt, spiegelt auch ein kommunistisches Erbe: Ohne die vielen erfolgreichen Alphabetisierungskampagnen nach altem maoistischem Rezept gäbe es heute keine Massenuniversitäten. Bei der kaiserlichen Mandarinatsprüfung bestanden jährlich Hunderte, heute sind es Millionen, die am Montag jubeln werden. „Nichts ist so schön wie die Zeit nach der Prüfung“, meint Wang Tong, der sich seiner Sache ganz sicher zu sein scheint.
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