Schily nimmt eine Auszeit

Trotz des verstrichenen Ultimatums will der Minister auf Zwangsmaßnahmen gegen Birthler vorerst verzichten

aus Berlin SEVERIN WEILAND

In Westernfilmen brennt die Sonne gnadenlos, wenn sich die Duellanten auf einer einsamen Straße treffen. In Berlin nieselte es, als Marianne Birthler das Ultimatum des Innenministers verstreichen ließ. Bis Montag, 12 Uhr, sollte sie „schriftlich bestätigen“, dass sie Akten prominenter Zeitzeugen nur noch mit Zustimmung der Betroffenen an Zeitzeugen und Forscher herausgibt. Doch die Leiterin der Behörde für die Stasi-Unterlagen war nicht gewillt, der Aufforderung zu folgen. Von „Fall zu Fall“ will sie entscheiden.

So trat denn Schily gestern eine Auszeit an und zog sich in den Saloon zurück, um über das weitere Verfahren nachzudenken. Zunächst einmal schrieb er einen weiteren Brief an Birthler. „Es sind noch Punkte zu klären“, sagte sein Sprecher Rainer Lingenthal dazu. Der Brief sei aber „Teil des Bemühens“, die Ausübung seiner Rechtsaufsicht gegenüber Birthler zu vermeiden. Schily hatte bereits vorige Woche angekündigt, er werde von diesem Recht Gebrauch machen – wenn Birthler der Bitte nach Aktenverschluss nicht nachkommen und das Kabinett die Zwangsmaßnahme unterstützen sollte.

Nun aber scheint beides nicht erreichbar: Birthler verweigert sich – und die Bundesregierung ist nicht von allzu großem Eifer getrieben, dem Innenminister kurz vor der Sommerpause das äußerste Mittel in die Hand zu legen. Auf der Tagesordnung für die morgige Kabinettssitzung wird das Thema jedenfalls nicht stehen.

Es knistert in der Koalition. Der bündnisgrüne Fraktionschef Rezzo Schlauch unterstützt die frühere Bürgerrechtlerin: „Wir sind eben nicht Herr Schily. Wir tun, was wir für richtig halten.“ Außerdem gelte: „Wir gehen da nicht hin und sagen: Oh, lieber Kanzler, der Schily ist wieder so böse.“

Auch aus der SPD werden die Stimmen lauter, die für Birthlers Hartnäckigkeit Verständnis zeigen. „Belastbar und richtig“ sei ihre Position, meint SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Nur zu gut erinnert man sich im Willy-Brandt-Haus an den ersten Streit um die Kohl-Akten im Januar, als SPD-Fraktionschef Peter Struck der Stasi-Beauftragten seine „uneingeschränkte Unterstützung“ zusagte.

Was aber will Gerhard Schröder? Ein Streit um Stasiakten kann ihm nicht gelegen kommen. Die PDS-Annäherung in Berlin ist manchen Mitgliedern ohnehin nur schwer zu vermitteln. Und am 13. August steht der 40. Jahrestag des Mauerbaus auf der Tagesordnung. Schröder habe „Verständnis für die Haltung Schilys“ im Umgang mit den Kohl-Akten ausgedrückt, erklärte gestern Regierungssprecher Uwe-Carsten Heye. Dabei habe der Kanzler aber nicht juristisch, sondern nur „politisch und emotional“ gesprochen. Eine Unterredung mit dem Bundesinnenminister sei nicht notwendig gewesen, denn die Angelegenheit „muss im Vorraum geklärt werden“.

Schon die Wortwahl der Beteiligten verrät, dass es nicht zum Duell kommen soll. Schily wolle vermeiden, dass sich das Bundeskabinett mit dem Thema befassen müsse, betonte gestern Lingenthal. Auch habe Birthler vor Ablauf des Ultimatums mit einem Brief an den Minister signalisiert, dass sie an einer pragmatischen Lösung interessiert sei. Für das Innenministerium ist klar: Aus dem Gesetz über die Stasi-Unterlagen und dem Kohl-Urteil ergibt sich eindeutig, dass Akten von Personen der Zeitgeschehen, die wie der Altkanzler Opfer der Stasi wurden, nicht herausgegeben werden dürfen.

Setzt sich Birthler in ähnlich gelagerten Fällen darüber hinweg, dann riskiert sie damit nach Meinung des Schily-Sprecher weiter Klagen von Betroffenen. Es müsse daher ein Weg gefunden werden, der die „widersprechenden Opfer und die Behörde nicht weiter belastet“. Vielleicht sei es sinnvoll, wenn Birthler die Entscheidungen der höheren Gerichte abwarte, ohne ihre Rechtsposition aufzugeben. So könnte am Ende Schily mit einem Friedensangebot aus dem Saloon treten. Das so lange gilt, bis das am Ende das Verfassungsgericht entschieden hat.