Schily schießt ein Eigentor

1:0 für Birthler: Im Streit um die Herausgabe von Stasiakten kriegt der Innenminister keine Kabinettsmehrheit gegen die Aktenbeauftragte zusammen. Ultimatum verstreicht folgenlos

BERLIN taz ■ Der Mann, der Marianne Birthler bis gestern 12 Uhr Mittag auf Linie bringen wollte, hat erst einmal den Kürzeren gezogen. Die Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde ist in Urlaub gegangen – und Innenminister Otto Schily hat sich mit seinem Ultimatum an die ehemalige Bürgerrechtlerin blamiert.

Birthler will nicht, wie gefordert, darauf verzichten, künftig die Stasiakten von Prominenten nur mit deren Zustimmung öffentlich zu machen, und der 12-Uhr-Termin gestern beeindruckte sie gar nicht. Daraufhin ließ der Minister erklären, er werde Birthler erneut schreiben, denn ihm liege an einer einvernehmlichen Lösung. Der Sprecher des Innenministeriums, Rainer Lingenthal, geht inzwischen davon aus, dass die Kontroverse um den Umgang mit Stasiakten bis zum Bundesverfassungsgericht gehen könnte.

Das Berliner Verwaltungsgericht hatte am Mittwoch auf Antrag von Exbundeskanzler Helmut Kohl entschieden, dass dessen Akten unter Verschluss bleiben sollen, weil er ein Opfer der Stasibespitzelung sei. Birthler beruft sich bei ihrer entgegengesetzten Auslegung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf die Praxis der vergangenen zehn Jahre.

Nach Angaben seines Sprechers wolle der Minister mit einem weiteren Brief an die Behördenleiterin das Mittel einer „rechtsaufsichtlichen Maßnahme“ vermeiden – also Birthler schonen. Tatsächlich ging es Schily wohl darum, eine eigene Niederlage abzuwenden, denn eine Mehrheit im Kabinett ist für seine „Maßnahme“ nicht in Sicht. Hier kann sich die frühere Grünen-Politikerin Birthler auf ihre Partei verlassen. Ein Warnsignal erhielt Sozialdemokrat Schily via ZDF-Morgenmagazin von SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, der Birthlers Position als „belastbar und richtig“ bezeichnete.

Kurz nach Ablauf des Ultimatums stärkten die Fraktionschefs der Grünen, Kerstin Müller und Rezzo Schlauch, Birthler noch mal den Rücken. „Wir haben den Eindruck, dass Herr Schily mit seiner jetzigen Position sehr isoliert ist“, sagte Müller. Knapp beschied sie den Minister: „Bis jetzt ist keine Kabinettsentscheidung geplant.“

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat nach Regierungsangaben Verständnis für Schilys Position. Einen Schiedsspruch durch Schröder lehnen die Grünen allerdings ab, wie Schlauch deutlich machte: „Das Kanzleramt ist für uns keine Beschwerdeinstanz.“

PATRIK SCHWARZ

brennpunkt SEITE 3