Willkommen im 3. Millennium

betr.: „Transzendenz oder Kommerz“ (Designerreligionen) u. a., taz vom 9. 7., 2. 7., 30. 6. 01

Ein großes Lob für Ihre ausgesprochen ausgewogene Serie über die Sektenlandschaft. Zum Teil wird das Thema von Seiten der großen christlichen Religionen mit erheblicher Bigotterie angegangen.

Für mich als promovierten Naturwissenschaftler gehören jedoch gerade deren Behauptungen und Glaubensvorstellungen sowie auch die dort angewandten emotionalen Kontrollmethoden zu den seltsamsten und fragwürdigsten der gesamten Religionsszene. Da gibt es Geistererscheinungen, Wunderglaube, Jungfrauengeburten, und Priester werden in „geistigen Rüstzentren“ auf ihre Aufgaben vorbereitet. Das Ganze hat in unserem Land die Form einer bezahlten und staatlich sanktionierten Dienstleistung. Wer jedoch mit ein wenig Objektivität Geschichte und Gegenwart der großen Buchreligionen betrachtet, der kann im Grunde nicht anders, als diesen jegliches Recht auf moralische Urteile über Andersgläubige abzusprechen.

Zugleich finde ich es traurig, dass die materialistische Kälte unserer „Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“ den gewinnorientierten Psychosekten ganze Scharen unglücklicher Menschen in die Arme treibt. Selbst mehr als fragwürdige Strukturvertriebe bestimmter Produkte präsentieren sich inzwischen als vehement verteidigte Quasi-Ersatzreligionen und -ideologien, dort wo es keine Ideale mehr gibt. Der Kapitalismus hat uns gelehrt, dass wir für alles, was wir „haben“ wollen, auch einen Preis zu entrichten haben.

Schon aus diesem Grund erscheint es vielen Menschen nicht seltsam, für ihr angebliches Seelenheil und für neue Ideale einen Preis entrichten zu müssen. Wie sagte schon der Gründer des Strukturvertriebes Herbalife: „Es geht nicht darum, neue Kunden und Vertriebler zu finden – es geht darum, sie zu Gläubigen zu machen.“ Und so glauben die Menschen an das Geld, an das Wirtschaftswachstum, an Jungfrauengeburten, Wunderheilungen, fruchtige Computer, Außerirdische, Heilsbringer oder wertlose Nahrungspülverchen. Wo ist der Unterschied? Schließlich leben wir in einer globalen Timokratie – der Wert wird am Preis gemessen und letztendlich geht es um finanziellen Gewinn – um nichts sonst. Willkommen im dritten Millennium.

STEFAN THIESEN, Selm