Zwei Karteikästen für die Opfer

■ Das Focke-Museum erweitert seine Kartei der Bremer NS-Opfer um die Namen von 1000 Zwangsarbeitern

Die Zwillinge Wladimir und Lida Nowosadow kamen am 27. April 1945 unweit des Bunkers Valentin im Marinegemeinschaftslager als Kinder einer „Ostarbeiterin“ zur Welt. Wladimir starb drei Tage später, Lida überlebte ihren Bruder nur um knapp zwei Wochen. Diese dürren Daten finden sich auf einer Karteikarte im Fockemuseum – in einem der beiden Schübe zu den Schicksalen von Zwangsarbeitern, die seit gestern die Kartei der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Bremen ergänzen.

Die Kartei als solche ist seit 1998 als Teil der Dauerausstellung des Focke-Museums allen BesucherInnen zugänglich. Und wie man am abgegriffenen Zustand der Kärtchen deutlich sehen kann, haben in den vergangenen zwei Jahren viele Menschen hier gewühlt. Heinz-Gerd Hofschen vom Fockemuseum betont die große Resonanz, welche die eigentlich „unscheinbare museumspädagogische Maßnahme“, die Kartei in einem alten Zettelkastenschrank des Polizeipräsidiums auszustellen, beim Publikum gefunden habe. Manchmal hätten sich Ausstellungsbesucher telefonisch bei ihm gemeldet und von schwierigen Entdeckungen berichtet, die sie in der Kartei gemacht hätten. Ein Anrufer fand unter den Namen der Euthanasieopfer den eines Onkels, welcher als „Geisteskranker“ ermordet worden war. In der Familie hatte man über den Fall nie gesprochen.

Es geht nicht um Vollständigkeit, sondern darum, wenigstens einigen der Opfer einen Namen zu geben. Nun wurde die Kartei mit Daten zu 1000 Zwangsarbeitern aus allen Teilen Europas ergänzt, die in Nordbremen als Zwangsarbeiter vor allem auf der Baustelle des U-Boot-Bunkers Valentin arbeiten mussten und hier ums Leben kamen. Das ist freilich nur ein Teil der Opfer: Man schätzt, dass beim Bunkerbau zehn- bis zwölftausend Sklavenarbeiter beschäftigt waren und dass etwa 2000 davon durch Arbeit, Krankheit und direkte Gewalt starben.

Viel kann man auf den Karten nicht lesen: Name, Nationalität, Geburtsdatum, Todestag – und das Lager in dem das Opfer interniert war. Dennoch gewinnt das brutale System der Sklavenarbeit Konturen. Man sieht, wie jung viele der Verschleppten waren – viele verloren ihr Leben im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren. Man sieht aber auch, dass sogar ältere Menschen zur Arbeit am Bunker gezwungen wurden: Der Franzose Pierre Cheval war 63, als er im KZ Farge verstarb oder ermordet wurde.

Die Daten zu den Zwangsarbeitern hat Heiko Kania, der als Standortoffizier der Bundeswehr in Schwanewede stationiert war, überwiegend in seiner Freizeit gesammelt. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema begann, als er vom Standortkommandeur den Auftrag erhielt, für die Bundeswehr die Geschichte der Zwangsarbeiter in Schwanewede aufzuarbeiten. Auch nach Beendigung des dienstlichen Auftrags fuhr der Hauptmann fort, sich mit dem Thema auseinander zu setzen – immer allerdings, so betonte er, mit Einverständnis und Unterstützung seiner Vorgesetzten. Er forschte in den Verzeichnissen des Standesamtes Schwanewede oder der reformierten Gemeinde des Ortes, und er holte sich Informationen bei der KZ-Gendenkstätte Neuengamme und der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung.

Kanias Vision ist die Gestaltung des Bunker- und Lagergeländes als einer Gedenkstätte, die dem Charakter des Ortes als einer „Landschaft der Erinnerung“ Rechnung trüge. Es käme ihm darauf an, die Gesichter der Opfer sichtbar zu machen, über die faszinierende Monumentalität des Bunkers hinaus, den Blick der Besucher auch auf die Spuren der ihn umgebenden Lager zu lenken. Doch während Besucher von der brutalen Kraft des Bunkers Valentin fasziniert sind, besteht für die mühsame Auseinandersetzung mit den Menschen, die dieses Betongebirge erbauen mussten, zunächst oft weniger Interesse.

Zeno Ackermann