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: Ex und hopp mit Dr. Seltsam

Die Berliner Vorlesebühnen boomen, dem Gründer Dr. Seltsam sind sie jedoch zu unpolitisch geworden. Da werden ihm zu sehr die banalen Alltagserlebnisse – das Einkaufen im Supermarkt oder ein Kneipenbesuch – aufgeblasen und das alte Steinsche Motto „Mindestens eine Provokation“ dabei zu „einem Lacher per Minute“. Wenn Dr. Seltsam von der Störung eines BuWe-Gelöbnisses zurückkam und darüber was erzählte, sagten die Jungen: „Du immer mit deinen alten Demostorys!“ „Mein Alltag ist eben abwechslungsreicher als eurer“, verteidigte dieser sich.

Von der Kritik zermürbt, eröffnete er dann eine Nebenbühne für sich: Das Café Existentialiste im Club Voltaire des Thälmannparks. Hier nun lud er sich noch ältere Erzähler als er selbst ein – z. B. den Résistancekämpfer Leo, Vater der DDR-Historikerin Anette Leo, die nach der Wende nebenan Diskussionen über den proletarisch-kommunistischen und den bürgerlich-adligen Antifaschismus organisiert hatte.

Darum geht es nun auch wieder in Dr. Seltsams Exi-Club. Leider gelang es ihm bisher nicht, von der großen Zuhörerschar in der Kalkscheune auch nur ein Drittel rüberzuziehen. Dann blieb auch noch ein Zuschuss vom Bezirk aus. Ermattet fuhr Dr. Seltsam in Urlaub. Obwohl er eigentlich das Gespräch z. B. mit dem Literaturfunktionär Olav Münzberg hätte suchen müssen.

Dieser bezeichnet sich noch immer als Existenzialist. Gerade veröffentlichte er einen Band mit Gedichten. In einem heißt es: „Der Interzonenzug. Ich habe ihn doch gestern noch zwischen Braunschweig und Berlin gesehen. Stattdessen haben heute im postmodern gestylten Speisewagen italienische Schlager stundenlang die neue Zeit gefeiert.“

Auch Paul M. Waschkau käme als Gast für den Exi-Keller in Frage. Er veröffentlichte gerade einen Band mit Fragmenten in dem von Sascha Anderson gegründeten Galrev-Verlag, an einer Stelle heißt es darin: „Wie selten kommt es schon vor / Dass unsere Herzen strahlen / Unser Blut singt / Unsere Haut lächelt / Und unsere Augen leuchten.“

Besser und billiger wäre es, mit der Reventlow einen Abend zu bestreiten: Die ist schon lange tot, aber Dr. Seltsam ist ein Reventlow-Fan und -Forscher und veröffentlichte bereits mehrere Artikel über die Frühexistenzialistin, deren Lebenszeit auf das Jahr genau mit dem Bestand des zweiten deutschen Kaiserreichs zusammenfiel. Ihre Husumer Heimatbiografen nannten die adlige Feministin durchweg „unsere schleswig-holsteinische Venus“, noch 1978 meinte einer in der Zeitschrift Nordfriesland, dass „sie es an körperlicher Schönheit mit der antiken Göttin der Liebe aufnehmen konnte“.

Dr. Seltsam soll inzwischen stolzer Besitzer eines Nacktfotos von der Gräfin sein. Wie es von Oskar Panizza oder Ludwig Klages in seine Hände gelangte, ist nicht klar. Auch nicht, ob sein Foto identisch ist mit dem, das unlängst aus einem Antikriegsmuseum am Bodensee verschwand. Aus Franziska von Reventlows Briefroman „Der Geldkomplex“ versucht die taz-Autorin Dorothee Wenner gerade einen Spielfilm zu machen – es gibt dabei aber noch eine Finanzierungslücke. Die allein erziehende Gräfin litt zeitlebens unter Geldmangel, auch der Briefroman brachte ihr erst posthum was ein. Deswegen: Ehret eure Dichter – solange sie leben!

HELMUT HÖGE