Autors Arkadien mit verschlafener Bar

Auch Schriftsteller leben in Hektik. Das New Yorker „Ledig House“ bietet ihnen eine stressfreie Zone – falls sie sich nicht gerade in die Haare geraten

Man trinkt Bier, tauscht Tratsch aus und füttert die Jukebox mit Münzen

von FRANK MATTER

Man hetzt durch das dichte und lärmige Manhattan, zwängt sich auf der Penn Station zerknirscht zwischen Pennern und Pendlern hindurch und steigt in einen voll gestopften Zug. Kaum hat man die Bronx hinter sich gelassen, löst sich die Stadt ins Nichts auf. Der Zug tost durch dünn besiedelte, bewaldete Landstriche den Hudson River entlang nach Norden. Vor den Fenstern verschlafene Kaffs mit frisch gestrichenen Häuschen, dazwischen heruntergekommene Industrieanlagen, Autobahnen, weitläufige Malls und endlose Parkplätze. Welcome to America.

Plötzlich steht man nach einer zweistündigen Zugreise und einer kurzen Autofahrt auf der Veranda des „Ledig House“. Das strahlend weiß getünchte Gebäude liegt auf einer sanften Anhöhe, inmitten lieblicher Hügel. So weit der Blick reicht – und er reicht weit –, nur Himmel, Felder, Wiesen, Wälder, kleine Gewässer. Ein Vogel zwitschert. Die Idylle ist fast erdrückend. „Man muss mit dieser Ruhe klarkommen“, sagt die Hamburger Schriftstellerin Sarah Khan. Wie sie so dasteht, nervös und energiegeladen, wirkt sie in der Umgebung wie ein Fremdkörper.

Das Ledig House beherbergt jedes Frühjahr und jeden Herbst für mehrere Monate Autoren aus der ganzen Welt. Wie viele dieser Künstlerkolonien, die es in der amerikanischen Provinz zuhauf gibt, ist das Schriftstellerhaus das Werk eines reichen Mannes. Der Gründer Francis Greenburger verkörpert auf geradezu exemplarische Weise die Verknüpfung von Geld und Geist. Als junger Mann trat er in die Literaturagentur seines Vaters ein und baute parallel ein millionenschweres Immobilienimperium auf. Sowohl der Vater wie auch der Sohn unterhielten enge Beziehungen zum legendären deutschen Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Viele der amerikanischen Autoren, die der Rowohlt Verlag auf Deutsch herausbrachte, wurden von den Greenburgers vertreten.

Als der deutsche Verleger starb, wollte ihm der jüngere Greenburger ein Denkmal setzen. So entstand 1992 unweit des Dorfs Omi im New Yorker Hudson Valley das Ledig House, eine Anlage aus historischem Holzhaus und zwei Neubauten mit den Schlaf- und Arbeitszimmern. Mehr als 200 Autoren haben seither hier gewohnt, manche für zwei Wochen, manche für zwei Monate.

An diesem Morgen läuft nicht viel. Die elf Autoren und Autorinnen, die sich zurzeit in der Kolonie aufhalten, haben sich in ihre Zimmer verzogen, um zu schreiben. Nur Agymah Kamau aus Barbados sitzt in stoischer Ruhe im Gras vor dem Haus und denkt nach.

Von Zeit zu Zeit steckt ein Schriftsteller in der Küche seine Nase in den überquellenden Kühlschrank, verköstigt sich mit Wurst und wechselt kauend ein paar Worte mit anderen hungrigen Autoren. Man spricht über erzählerische Strukturen, Romanfiguren, das Wetter oder ganz einfach über Amerika. Dann sind die Schreiber wieder ganz auf sich selbst gestellt.

„Am Anfang hatte ich fürchterliche Angst, dass ich hier vier Wochen lang nichts zu tun habe“, gesteht Sarah Khan. Die Furcht erwies sich jedoch als unbegründet. Der Tapetenwechsel setzte viele Ideen frei und animierte sie zum Schreiben. Natürlich gebe es auch Tage, an denen sie niedergeschlagen und nicht besonders produktiv sei, sagt sie.

Khan ist 29 Jahre alt. Sie hat letztes Jahr im Rowohlt Verlag mit „Gogo-Girl“ ihr Debüt gegeben und sich darauf an ihr zweites Buch gemacht, ohne richtig voranzukommen. In Hamburg sei sie ständig abgelenkt, hier könne sie sich nun endlich auf ihre Arbeit konzentrieren.

Sie spricht schnell und leidenschaftlich, erzählt von ihrem starken Kinderwunsch, von ihrer Angst, vom „Ami-Food“ dick zu werden, klagt über ihre Reisephobie. Vor der Reise nach Omi habe sie Heulkrämpfe gehabt, habe immer geträumt, sie stehe allein auf einem Bahnsteig, einsam, von niemandem geliebt.

Die Angst vor der Einsamkeit ist eines der zentralen Motive bei Khan, auch in ihrem Erstlingsroman. Wie ist es da, plötzlich mit zehn anderen Schreibern unter einem Dach zu hausen? „Alle haben so ihre Empfindlichkeiten“, sagt sie mit einem Lachen, „aber ein Jugendcamp ist das nicht!“

Die 45-jährige Mirjam Boelsum aus Amsterdam steht an einem ganz anderen Punkt ihres Lebens, ist auch ein ganz anderer Typ als Khan, ruhiger, abgeklärter, zielbewusster. Und doch schätzt sie am Ledig House ähnliche Dinge wie ihre Kollegin. „Ich lebe hier den ganzen Tag mit meiner Story, ich gehe mit ihr schlafen, stehe am Morgen damit wieder auf“, sagt sie. Da wachse man ganz anders in eine Geschichte hinein als zu Hause, wo ständig das Telefon klingle und man sich um Freund und Tochter kümmern müsse.

Was ihr in ihrem Alltag ebenfalls fehlt, ist der Gedankenaustausch mit Berufskollegen. Hier kann sie ihre Probleme und Erfahrungen besprechen. Die Gespräche erweitern den intellektuellen Horizont und liefern Anregungen für ihre Texte.

Schreiben. Diskutieren. Die Gäste der Schriftstellerkolonie müssen sich um nichts anderes kümmern. Der Kühlschrank ist immer voll, das Abendessen wird von Freiwilligen aus den umliegenden Orten gekocht, Putzpersonal hält die Gebäude sauber. Ein Service wie im Luxushotel, nur zum Nulltarif.

„Alle haben so ihre Empfindlichkeiten, aber ein Jugendcamp ist das nicht“

Kein Wunder, dass sich die Autoren um einen Platz reißen. Letztes Jahr erhielt Programmdirektor David Knowles über 300 Anmeldungen. Da im Jahr nur etwa 40 bis 45 Plätze zu vergeben sind, ist das Auswahlverfahren ziemlich hart. Die meisten Sponsorenbeiträge kommen aus den USA und Deutschland. Deshalb sind Schriftsteller aus diesen Ländern normalerweise in der Mehrzahl. „Wir legen aber Wert darauf, dass auch Autoren aus weniger privilegierten Ländern eingeladen werden“, sagt der Übersetzer, Grass-Lektor und ehemalige Rowohlt-Mitarbeiter Helmut Frielinghaus, der seit Beginn dem Vorstand des Ledig House angehört.

Wie immer, wenn Individuen aus verschiedenen Altersgruppen und Kulturen zusammenleben, sind Konflikte vorprogrammiert. Gründe für Meinungsverschiedenheiten gibt es viele: unterschiedliche politische Ansichten, literarische Differenzen, Liebesdramen, berufliches Konkurrenzdenken und überdimensionierte Egos. Manchmal eskalieren die Auseinandersetzungen und es entstehen leidenschaftliche Feindschaften. „In einzelnen Fällen mussten wir vermittelnd eingreifen“, erinnert sich Direktor Knowles. Frielinghaus seufzt: „Immerhin haben wir noch nie jemand heimgeschickt.“

Offener Streit ist indes die Ausnahme. Die Autoren, die wir im April besuchten, kamen miteinander aus, obwohl die Charaktere unterschiedlicher kaum hätten sein können. Die schillerndste Figur der Gruppe war der Mexikaner Mario Bellatin, der mitsamt seinem leicht neurotisch wirkenden Schoßhündchen angereist kam. Seinem Auftritt haftete ein Hauch von Extravaganz an. Im Gespräch erwies sich der von Geburt an behinderte Autor dann allerdings als bescheiden und eher zurückhaltend.

An einem Abend stellten sich die Schriftsteller gegenseitig ihre Texte vor. Die Lesung machte deutlich, wie sehr sich die verschiedenen Kulturkreise ihre Eigenheiten bewahrt haben – Global Village hin oder her. Ebenso unüberhörbar war aber die Übermacht der US-Popkultur. Die Nichtamerikaner hatten kaum Probleme, die politischen und kulturellen Anspielungen zu verstehen, ja, viele verwendeten in ihren Texten selbst amerikanische Ausdrücke.

Später am Abend macht die Gruppe einen Abstecher in die verschlafene Bar ein paar Meilen weiter. Man trinkt Bier, tauscht Tratsch aus und füttert die Jukebox mit Münzen. Die deutsche Autorin Annegret Held fragt die anderen nach ihren Drogenerfahrungen. Drogen spielen in ihrem nächsten Buch eine Rolle, selbst weiß sie aber nicht viel darüber. Held hat einige Jahre als Polizistin gearbeitet und ist erst später zur Schriftstellerei gekommen. Deshalb fühlt sie sich unter den belesenen Intellektuellen manchmal etwas unsicher. „Ich kenne die Weltliteratur nicht in- und auswendig“, sagt sie scheu. „Ach was!“, ruft die junge Amerikanerin Jenny Offill über den Tisch. „Du hast es richtig gemacht: Während wir uns am College gelangweilt haben, hast du auf der Straße Material gesammelt.“

Inzwischen hat der Barkeeper, ein gebürtiger Ungar, die Fidel hervorgeholt, um den exotischen Gästen ein Ständchen zu bringen. Die Schriftsteller hören gerührt zu. Wer weiß, vielleicht wird man dem Alkohol ausschenkenden Geiger demnächst in einem Roman wieder begegnen.