Koffer, öffne dich!

Besonders begehrt ist, was der Auktionator mit rollender Stimme anpreist: „Groß, schwarz, schwer, sehr schwer!“

aus Darmstadt HEIDE PLATEN

Der Lastwagen wird und wird nicht leer. Die Studenten laden seit Stunden aus, schleppen, stapeln Koffer auf Koffer, Tasche auf Tasche. Dazu dicke Bündel Regen- und Sonnenschirme, Kinderwagen, Handys dutzendweise, CDs, Schmuck und Kameras. Der Berg auf der Bühne der Darmstädter Waldsporthalle wächst, türmt sich auf, Wundertütenland. Auf den Stuhlreihen sitzen schon um 10 Uhr morgens die ersten Süchtigen: Fundsachenversteigerung der Flughafen AG und der Lufthansa. Da sammelt sich alles, was im Dezember und Januar in Flugzeugen und Flughäfen verloren ging, bei der Gepäckausgabe nicht abgeholt wurde, in die Irre gelaufen ist oder von den rechtmäßigen Besitzern nicht eindeutig als ihr Eigentum identifiziert wurde. Manches Gepäckstück allerdings sieht aus, als sei es von seinem Besitzer fluchtartig verlassen worden. Es wird seinen Liebhaber finden.

Heinz-Dieter Wendt vom gleichnamigen Darmstädter Auktionshaus ist der Star des Tages. Um 11.30 Uhr kommt er, wird begrüßt wie ein alter Bekannter, lacht jovial, streicht sich den grauen Bart. Die blauen Augen blitzen hinter der Goldrandbrille. Um Punkt 12 sitzt er hinter dem Pult. Dann wird es für ihn ernst: „Sechs Stunden Hochkonzentration.“ Minute um Minute hebt Wendt den kleinen Holzhammer: „120 Mark sind geboten. Zum ersten, zum zweiten . . . Niemand mehr? 130 Mark sind geboten. Zum ersten . . .“ Er rattert ohne Pause, scherzt, spottet ohne Punkt und Komma. Dreimal muss er jedes Gebot wiederholen. Dann knallt der Hammer.

„Sind Sie jetzt beleidigt?“

Vor der Bühne sitzt Birgit Wendt an ihrem Laptop und hat alles fest im Blick, vergleicht den ausgelobten Gegenstand mit der Listennummer, tippt die Nummer des erfolgreichen Bieters und den erzielten Preis ein. Irgendwann am Abend wird sie sich das Genick reiben, die verspannten Schultermuskeln dehnen und sagen: „Ich kann nicht mehr!“ Heinz-Dieter Wendt treibt sein Team an, der Ton wird rauher, das Tempo noch schneller: „Rrruhe da hinten!“ Und: „Sind Sie jetzt beleidigt? Das ist gut so!“ „Zum ersten, zum zweiten, der ganze Plunder, äh Posten, für zehn Mark!“ Kein Nachlassen, bis die Bühne fast leergeräumt ist.

Die Auktionen finden etwa einmal im Monat statt, meist im Rhein-Main-Gebiet. Jedesmal kommen etwa 500 Gepäckstücke unter den Hammer. Die Bieter ersteigern sie blind, ohne zu wissen, was in ihnen enthalten ist. Der Familienbetrieb Wendt wirbt mit dem Slogan: „Ersteigern sie Ihren Wunderkoffer.“ Student Gerrit jobbt seit fünf Jahren für die Wendts. Er ist beim Abladen von Neugierigen umringt, die schon einmal nach einem besonderen Stück Ausschau halten. Der da? Oder lieber der andere? Was mag da wohl drin sein? „Ein Klumpen Gold“, ächzt Gerrit unter der Last. Oder „vieleicht das Bernsteinzimmer“. Egal: Alle Trolleys und Koffer werden von 100, alle Taschen und Rucksäcke von 30 Mark aufwärts angeboten. In der Waldsporthalle sitzen bei warmem Wetter und in Vorurlaubsstimmung die Brieftaschen locker. Selbst Heinz-Dieter Wendt staunt, als er auf einen der unscheinbaren Koffer blickt: „240 Mark kostet der jetzt schon. Du lieber Gott!“ Stundenlang geht kein Gepäckstück unter 200 Mark weg. Besonders begehrt ist, was Wendt mit rollender Stimme anpreist: „Grrroß, schwarrrz, schwerrr! Sehrr grrroß, sauschwerrr!“

Michael Kröber wartet vergeblich darauf, dass das Publikum genug bekommt, dass die Preise sinken. Er ist mit seinem Freund Frank aus Schwaben angereist, geht nur hin und wieder zu Auktionen und ersteht vor allem Camping- und Trekkingartikel, Schlafsäcke, Isomatten, Zelte, aber auch das eine oder andere Gepäckstück. Manchmal habe er da schon sehr viel Glück gehabt, gute Kleider und elektronische Geräte gefunden. Er bevorzuge, sagt er, die Reisetaschen: „Die sind billiger als die Koffer, da ist aber genauso viel drin.“ Aber auch die Taschengebote klettern diesmal blitzschnell von 100 auf durchschnittlich 170 Mark. Dass es so teuer sei, sagt Kröber, habe er noch nie erlebt: „Die Leute sind verrückt geworden!“ Er betrachtet das gerade angebotene, kahle Gerüst eines Autositzes: „Das kann man ja nicht mal verbrennen!“ Auch Wendt wundert sich an diesem Tag: Trolley, Henkel kaputt, Zahlenschloss defekt, Loch im Stoff, eine Rolle fehlt, kurz „ein Fragment mit Inhalt“: „Was, das wollen Sie wirklich haben?“ Und: „Was machen Sie bloß mit dem ganzen Zeug?“

Michael Kröber und sein Freund halten sich zurück, erstehen nur eine drehbare Zimmerantenne und eine fabrikneue Auflage für ein Wasserbett. Eine Familie mit Tochter und Schwiegersohn ist zum ersten Mal bei einer Versteigerung. Nach zwei Stunden besitzen sie einen Goldring, zwei Koffer, zwei Taschen und einen Trolley. Sie flüchten gepäckbeladen und von später Reue geplagt: „Schluss! Wir müssen damit aufhören!“

Draußen strahlt die Sommersonne. Drinnen harren die Schnäppchenjäger aus, gehen nur ab und zu mal vor den Saal, um einen Blick auf den Inhalt ihrer Beute zu werfen. Sie geben Rätsel auf. Was will eine zierliche, elegante Blondine mit einem Koffer voller Kleidung, die offenbar einem besonders großen, dicken Mann gehörte? „Weiß ich doch nicht“, sagt sie und zieht eine Schnute: „Pech gehabt!“

Die Regeln für öffentliche Versteigerungen sind streng und gesetzlich festgelegt. Der Bieter haftet für das ersteigerte Gut, Reklamationen sind ausgeschlossen, Rückgabe und Umtausch nicht möglich. Auch dann nicht, wenn jemand den Musterkoffer eines Vertreters erwischt, randvoll mit linken Schuhen. Die Welt steckt voller Merkwürdigkeiten. Diesmal sind ein Musterkoffer mit Rolladenteilen dabei, ein zerbrochenes Cello, ein intakter Rollstuhl, eine Tarnuniform mit schusssicherer Weste. Der Auktionator bekommt am Ende 18 Prozent der vom ihm ersteigerten Summe, der Rest geht an die Auftraggeber.

Und wer hat liegen gelassen, was die Leute jetzt fortschleppen? Nein, sagt Birgit Wendt, die rechtmäßigen Besitzer des Gepäcks sind bei weitem nicht nur Schussel. Viele Koffer sind irregeleitete Exemplare, deren Besitzer nicht mehr ermittelt werden können. Das liege auch daran, dass sich Koffer, wenn sie in Massen transportiert werden, nun einmal doch alle sehr ähnlich sehen. Da helfe es auch nicht, wenn gewieftere Reisende den ihren mit einem bunten Bändchen versehen: „Das machen nämlich auch alle.“ Und wie solle die Fundstelle der Lufthansa erkennen, dass der reklamierte Koffer so schwarz, grau oder braun sei wie all die anderen mit Bändchen in der Reihe auch? Auch die enthaltenen Kleidungsstücke ließen oft keine sichere Identifizierung zu.

Die Show ist’s wert

Heinz-Dieter Wendt weiß, dass viele Stammkunden auch wegen seiner Show kommen. Die Koffer, versichert er, werden so versteigert, wie sie aufgefunden werden. Allerdings werden sie mehrmals kontrolliert, zuerst einmal vom Suchdienst der Lufthansa auf Hinweise auf den Besitzer. Verderbliche und nasse Sachen werden aussortiert. Dann werden die Gepäckstücke auf Waffen durchleuchtet und von Drogenhunden abgeschnuppert.

Birgit Wendt macht den Kunden wenig Hoffnung auf spektakuläre Funde. Wertvolle Sachen werden meist im Handgepäck transportiert, elektronische Geräte sind selten komplett, Netzteile fehlen. Wer auf Nummer Sicher gehen wolle und einen teuren Markenkoffer ersteigere, gehöre meist auch nicht gerade zu den Gewinnern: „Dafür ist das zu teuer.“ Sie selbst würde eher auf Kleidersäcke achten, denn wer damit reist, habe zumindest meist „ordentliche Sachen“ drin. Oder auf Koffer, „die gut gebraucht aussehen“, also auf Viel- und Weitreisende schließen lassen, die mit mehr als der Urlaubsausstattung unterwegs sind. Reisenden, die ihr Gepäck wiederbekommen wollen, rät sie, vor der Abreise eine detaillierte Inhaltsliste aufzustellen. Wenn sie selbst weggfährt, markiert sie ihre Taschen mit auffälligem, grüngelben Klebestreifen. Das Ersteigern, meint sie, müsse schon eine Sucht sein: „Die kriegen ja keinen Gegenwert.“ Wenn Sucht, dann für beide Seiten, „für uns da oben ebenso wie für die da unten im Publikum“. Sie selbst guckt längst in keinen der Koffer mehr. Aber bei deren Erwerb, meint ihre Tochter Maike, sei sicher auch „eine Menge Voyeurismus“ dabei. Der Reiz, nach Lust und Laune in fremden Sachen wühlen zu dürfen: „Was tragen die für Unterwäsche?“

Und was tragen sie nun für Unterwäsche? Bieter-Nr. 8 weiß es jetzt ganz genau. Der auffällige, türkisfarbene Hartschalenkoffer hat garantiert einer zickigen Blondine gehört, gemeinerweise rank und schlank noch dazu, auf Urlaubsreise, tadellos sauber, aber mit schlechtem Geschmack: auffällige Billigware in Pastellfarben mit Flitter und Glitzerknöpfen, Blümchen satt, rosa Rosen- und Rankenapplikation und Matrosenlook für die Strandpromenade. Über den dunkelgrünen, abgewetzten Trolley schweigt die Höflichkeit. Zum Glück war wenig drin. Heinz-Dieter Wendt hatte es geahnt: „Da müssen Sie weniger wegwerfen!“