USA testen Raketenabwehr

Der neueste Versuch, eine feindliche Rakete im Flug abzuschießen, hat endlich geklappt. Die Regierung will dem ABM-Vertrag zum Trotz mit dem Aufbau eines Raketenschutzschilds beginnen und verlangt bereits die Aufstockung des Verteidigungsetats

aus New York NICOLA LIEBERT

Für seine Gegner im US-Kongress ist es ein Waffensystem, das nicht funktioniert, gegen einen Feind, der nicht existiert. Für seine Befürworter ist das nationale Raketenabwehrprogramm die einzige Möglichkeit, sich vor „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea oder Irak zu schützen.

Präsident Bush ist seinem Ziel, einen die ganzen USA abdeckenden Schutzschild zu schaffen, nun ein wenig näher gekommen. In der Nacht auf Sonntag ist es den Pentagon-Experten gelungen, über dem Pazifik in mehr als 200 Kilometer Höhe eine Rakete im Flug zu erwischen und zu pulverisieren. Vier Greenpeace-Demonstranten wurden festgenommen beim Versuch, den Abschuss zu verhindern. Von insgesamt vier jeweils 100 Millionen Dollar teuren Testabschüssen haben damit nun zwei geklappt. Der nächste ist für Oktober geplant.

Doch die Aufgabe war einfach; Abschuss und Route der Rakete waren schließlich bekannt. Das Problem, wie durch Satelliten die Flugbahn fremder Atomsprengköpfe verfolgt werden kann und wie die Sprengköpfe von einer Vielzahl mitfliegender Attrappen zu unterscheiden sind, ist jedoch technisch noch völlig ungelöst, warnt der ehemalige oberste Waffentester Philip Coyle. Angreifern stünden schon jetzt ausreichende Mittel zur Verfügung, um jedes bekannte Erkennungssystem für Raketen zu unterlaufen.

Doch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ist überzeugt, dass selbst ein nur manchmal funktionierendes Raketenabwehrsystem den Feind so weit verunsichere, dass dieser von Angriffen absieht. Rumsfelds derzeitiger Hauptfeind sitzt indes nicht in Pjöngjang, sondern in Washington im Senat. Der demokratische Vorsitzende des Streitkräfteausschusses, Carl Levin, der Rumfelds Ansatz als „Vogelscheuchendoktrin“ bezeichnet, mag nicht glauben, „dass ein versagendes System irgendjemanden abschreckt“. Und sein Parteifreund Max Cleland fügt hinzu: „Schon ein einziger Atomsprengkopf, der durchkommt, kann einem den Tag vermiesen.“

Was Rumsfelds Gegner besonders aufregt, ist die Chuzpe, mit der die US-Regierung ohne Rücksicht auf den ABM-Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme ihre Pläne durchsetzen will. Die Weigerung der US-Regierung zur internationalen Zusammenarbeit, die sich in dieser Frage genauso wie im Klimaschutz, bei der Beschränkung des Handels mit Kleinwaffen oder bei der Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs zeigt, erscheint vielen besonneneren Politikern als Gefährdung der internationalen Interessen der USA.

„Niemand behauptet, dass das, was wir hier tun, in Übereinstimmung mit dem Vertrag ist“, räumte der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz am Donnerstag während einer Anhörung im Streitkräfteausschuss des Senats ein. „Wir müssen ihn eben entweder ändern oder aufkündigen.“

Zu Beginn der Anhörung hatte Wolfowitz noch behauptet, der Bau von Raketensilos und Test-Abschussrampen in Alaska, für den die Vorarbeiten bereits im August beginnen sollen, würde allenfalls „anecken“, aber keinesfalls den Vertrag verletzen. Doch ein sichtlich erregter Levin zog daraufhin ein Regierungspapier hervor, demzufolge die Nato-Partner sowie Russland schon darüber informiert wurden, dass die Testpläne mit dem ABM-Vertrag „in Konflikt geraten“ würden – und zwar bereits innerhalb der kommenden Monate.

Russland, das den Vertrag von 1972 als eine der wichtigsten Grundlagen der nuklearen Rüstungskontrolle ansieht, hat auf die Ankündigung bereits mit harschen Worten reagiert. „Der einseitige Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem ABM-Vertrag wird zur Zerstörung der strategischen Stabilität führen, zu einer neuen Spirale des Wettrüstens und zur Entwicklung von Mitteln, das nationale Raketenverteidigungssystem zu überwinden“, sagte der Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Wladimir Ruschajlo.

Die US-Regierung ist dabei nach eigenen Aussagen durchaus willens, mit der russischen Regierung über eine Neufassung des ABM-Vertrags, die viel weiter gehende Tests als jetzt erlauben soll, zu verhandeln. Nur, schäumt Levin, wartet die Regierung nicht auf das Ergebnis solcher Verhandlungen, sondern verlangt schon jetzt vom Kongress die Aufstockung des Verteidigungsetats für die Raketenabwehr um 57 Prozent auf 8,3 Milliarden Dollar. Sollte der Kongress dies billigen, hat er aus Sicht der Regierung de facto schon den Beginn des Baus eines Raketenschutzschildes abgesegnet.

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