Das Belauern hat ein Ende

Obwohl Jan Ullrich und Lance Armstrong mit sattem Rückstand in die Berge starten, ist bei der Tour noch nicht allzu viel passiert. Das könnte sich heute auf der ersten Alpenetappe aber ändern

von FRANK KETTERER

Drüben in Frankreich hat man mit solchen Dingen ja noch nie lange gefackelt, und so darf es nur wenig verwundern, dass L’Equipe, die große französische Sportzeitung und letztendlich Erfinder der Tour de France, am Montag kurzerhand die gute, alte Guillotine zum Einsatz brachte, als sie da feststellte, die Tour habe am Tag zuvor „den Kopf verloren“. Hackebeil runter, Rübe ab – so flink geht das in Frankreich auch heute noch, zumindest in der Zeitung und bei der Tour. Wobei: Etwas verrückt war es ja schon, was sich da abgespielt hatte auf den 222 Kilometern der achten Etappe von Colmar nach Pontarlier, auf der der erlauchte Kreis der angeblichen Favoriten über 35 Minuten Rückstand aufgebrummt bekam von einer 14-köpfigen Ausreißergruppe, die bereits nach fünf Kilometern ihr Heil in der Flucht suchte – und dort auch fand. Und beinahe normal nach solch wundersamen Begebenheiten ist, dass nun heftig spekuliert wird über Stärken und Schwächen jener, die man zumindest vor Tour-Beginn als nahezu unschlagbare Giganten ausgemacht hatte, allen voran also über die Form des Texaners Lance Armstrong und Jan Ullrich aus Merdingen.

Noch war von beiden nicht allzu viel zu sehen bei dieser Tour, das kann man ruhig so feststellen. Andererseits darf genau dies wiederum nicht allzu sehr verwundern, weil die Tour, wenn man so will, erst heute so richtig beginnt. Hinauf auf die Gipel der Alpen geht es auf der zehnten Etappe, auf den Col de la Madeleine, genau 2.000 Meter hoch und manchmal selbst im Sommer schneebedeckt, den Col du Glandon (1.924 m) und schließlich nach Alpe d’Huez (1.850 m). Heute und morgen, auf der Rampe hoch nach Chamonix (1.730 m), werden Ullrich und Armstrong erstmals wirklich Farbe bekennen müssen – und Stärke zeigen, so sie darüber verfügen. Heute ist sie endgültig vorbei, die Zeit des Belauerns und Taktierens, mit der Ullrich und Armstrong bisher die Tour verbracht und andere Fahrer in die Schlagzeilen sowie die Trikots haben pedalieren lassen.

„Keiner, der jetzt vorne ist, wird in Paris auf dem Treppchen stehen“, bekräftigt Jan Ullrich, letztendlich ist es genau dieses Wissen, das die Dinge so vordergründig dramatisch hat werden lassen: „Wenn alle gedacht hätten, die vorne sind gefährlich, wären doch alle gefahren“, beschwichtigt Ullrich. Und selbst die Gefahr eines Ausschlusses wegen Zeitüberschreitung war von vornherein nicht viel mehr als eine lustige Episode am Rande, die ein bisschen für zusätzlichen Kitzel sorgte: Denn zum einen durfte sich das bummelnde Hauptfeld samt Favoriten mehr als gewiss sein, dass sie von den Tour-Organisatioren nie und nimmer nach Hause geschickt würden, nur weil sie zehn Prozent länger unterwegs waren als der Sieger; zum anderen gibt es genau für diesen Fall immer noch Artikel 22 im Reglement, der da besagt, dass andere Toleranzzeiten zum Einsatz kommen, wenn 20 Prozent des Fahrerfeldes vom Ausschluss bedroht sind, was allemal der Fall war.

So gesehen ist also noch nichts passiert bei der diesjährigen Ausgabe der Großen Schleife, und selbst über Form oder Unform von Ullrich und Armstrong lassen sich aus dem bisherigen Geschehen nicht wirklich Rückschlüsse ziehen. „Bisher läuft alles gut bei mir, ich fühle mich besser als im letzten Jahr“, gibt entsprechend Jan Ullrich vor den Alpen zu Protokoll, versehen gar mit dem Hinweis, er, Ullrich, habe mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass das Armstrong-Team „nicht mehr so überragend wie in den vergangenen beiden Jahren“ sei. Das würde die eigenen Chancen des Telekom-Chefs natürlich erheblich erhöhen, kann von der Gegenseite, von Armstrong und seinem US-Postal-Team also, aber kaum bestätigt werden. Alles im grünen Bereich, heißt es auch hier, selbst das verletzungsbedingte Ausscheiden von Christian Vandevelde wird, zumindest nach außen, klaglos hingenommen, obwohl Armstrong damit nun einen Helfer weniger an seiner Seite hat. Klagen aber hieße Schwäche zeigen – und das kann sich keiner leisten bei der Tour de France, auch Armstrong nicht. Schon gar nicht, bevor es in die Berge geht und sich bald schon entscheiden wird, wessen Kopf am Ende rollt.