Doppeltes Spiel

Er kommt aus der Biologie, arbeitet als Choreograf und testet Theorie: Der Franzose Xavier Le Roy bringt die Schriften von Jacques Lacan und Gilles Deleuze auf der Bühne zum Tanzen. Ein Porträt

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Er ist Choreograf und Philosoph, der theoretische Figuren in der Praxis auf die Teststrecke schickt. Fragmentierung der Identität, Auflösung des Subjekts, Abschaffung des Autors, organlose Körper, Remix aus Zitaten: dieses Feld hat Xavier Le Roy die letzten vier Jahre mit Witz und Wissensdrang beackert, ohne sich je zu wiederholen. Noch hat der seit 1992 in Berlin lebende Le Roy für fast jede Produktion den Rahmen der Voraussetzungen gewechselt. In Soloprojekten und in breit gestreuten Kollektiven, im Rollentausch mit befreundeten Choreografen und im Auftrag von Tänzerinnen entstanden seine Arbeiten. Es gibt Aufführungen und Vorlesungen, Texte, die den Körper wegschieben und Tanz in Kritik auflösen, und dann wieder Performances, in denen der Körper Transformationen durchläuft und mehr kann als alle Theorie.

„Ich brauche die Deplatzierung, das Ausbrechen aus der Rolle, um nach einer neuen Perspektive zu suchen und andere Angebote machen zu können“, sagt Xavier Le Roy. „Aber das System ist nicht so gebaut, es lässt dafür keine Zeit, es fordert die Produktion.“ Das hat er gleich zweimal erfahren. Sein erstes System war die Wissenschaft. Xavier Le Roy hatte sich zuerst für die Biologie entschieden und konnte seinen Weg in der Krebsforschung schon erkennen, als er 1990, nach seiner Promotion, den Wissenschaftsbetrieb floh. Jahrelang war er mit der Untersuchung von drei, vier Genen beschäftigt und litt unter der Einengung des Blicks. 60 Prozent der Forschungsarbeit galten der eigenen Legitimation, ständig mussten Ergebnisse publiziert werden. Diese Zwänge wurden sein größter Gegner.

In „Product of Circumstances“ blickte er 1999 in einer autobiografischen Vorlesung auf den Weg von der Mikrobiologie in den Tanz zurück. Er war in der Kunst auf ein nicht weniger produktorientiertes System gestoßen. Aber in diesem System hat er zu kritischen Strategien gefunden, mit Rollenerwartungen zu spielen und den Produktionsprozess anders zu organisieren.

Der biografischen Performance, die zwei Kontexte allein durch die Einheit seiner Person verband und den Körper als Ergebnis einer Geschichte begriff, folgte 2000 eine verblüffende Fingerübung in Dekonstruktion. Mit Jérôme Bel, einem befreundeten Choreografen, ging er einen Pakt ein. Bel hatte den Auftrag zu einem Stück und lud Le Roy ein, seine Rolle zu übernehmen. So erarbeitete er ein Stück, wie er sich dachte, dass Jérôme es machen würde. Bel übernahm die Autorschaft und nannte das Stück „Xavier Le Roy“. Dieser verwirrenden Rochade entspricht die Choreografie: Eine Bühnenfigur mit blonder Perücke taucht hinter einem Wandschirm auf und ab, jedes Mal mit einem anderen Bewegungszitat. Sie durchquert Readymades der Tanz- und Kunstgeschichte, aus Pop und Kino. Aber zwischen den geliehenen Identitäten misst sie manchmal ihre Strecke nach Fußlängen aus und kommt stets zu einem anderen Ergebnis. Es dauert, bis wie bei einer Denksportaufgabe der Groschen fällt, dass man es mit mehreren Trägern der vorgefertigten Subjekt-Entwürfe zu tun hat, die sich aber, gleich kostümiert, nicht unterscheiden lassen. Das Solo vom Autor, der sich aufspaltet, erweist sich als Duo. Aber anders als 99 Prozent aller Duos, hält Xavier befriedigt dagegen, handelt es nicht von einer Beziehung.

Wir treffen uns im Berliner Podewil am Rande der Proben mit der Tänzerin Eszter Salamon. Sie hat von der französischen Gesellschaft für Choreografen (SACD) die Möglichkeit erhalten, sich einen Choreografen auszuwählen – und sich für Xavier entschieden, weil „er Bilder des Körpers“ kritisiert, „Kontexte de- und rekonstruiert“. Ihr Solo „Giszelle“ wird am 17. Juli beim Festival d'Avignon uraufgeführt und in Berlin im „Tanz im August“ gezeigt. „Giszelle“ setzt fort, was in „Xavier Le Roy“ begann. Wieder wird vorgefundenes Material gesampelt, werden biologische Bewegungsmuster, soziale Verhaltensformen und Stile gestreift: romantisches Ballett und der Gang eines Affen; Jesus am Kreuz und der Gangsta, der die Waffe zieht; der athletische Körper des Kampfsports und der selbstvergessene des Träumers.

Anfangs trennen Pausen die diversen Körperbilder, dann aber beginnt Salamon durch sie zu gleiten, die Wechsel zu verschleifen und die verschiedenen Sprachen anagrammatisch zu verflechten. Der Wechsel selbst wird zum Thema, was in ihm geschieht und wo aus der Überlappung verschiedener Kontexte Neues entsteht, das noch durch kein Bild benannt werden kann. „Mit den Techniken des Kinos haben wir das Material bearbeitet, Schnitt, Einzelbild, schneller Vor- und Rücklauf. Ist das nicht voll Bewegung, mit so viel Tanz wie noch nie?“, fragt Le Roy, selbst begeistert von dieser Verflüssigung schon erstarrter Zeichen durch Eszter Salamon.

Fast alle Stücke betonen die Konzeption von Körperbildern. An Körper als Teil einer Natur, die aller Geschichte vorausgeht, glaubt Xavier Le Roy nicht. Auch im Alltag, sagt er, treffen wir Entscheidungen, die verschiedenen Konzepten des Körpers folgen. Das beginnt bei der Ernährung, zeigt sich in Krisen des Fleischmarkts besonders scharf und wird in seinen Konsequenzen spürbar, „wenn wir krank sind und uns entscheiden: Zum Homöopathen oder zum Allgemeinmediziner?“. In der Tanz- und Theaterszene Berlins verkörpert Le Roy die praktische Seite der Rezeption der Theorien von Gilles Deleuze und Jacques Lacan, die nach 1990 besonders im Osten der Stadt ein Revival erlebten.

Sein nächstes Labor wird die Deutsche Oper Berlin. Der Architekt Daniel Libeskind hat ihn eingeladen, 2002 an einer Inszenierung von „Saint François d'Assise“ von Messiaen mitzuarbeiten. Der große Apparat wird hervorragendes Untersuchungsmaterial abgeben für einen, der die Wahrnehmung bisher von allem Bühnengerümpel befreit hat. Kostüme, Kulissen, Aufgänge, Lichtdesign – fast nichts davon blieb in seinen Stücken. „Giszelle“ wird bei Tageslicht getanzt, und manchmal sagt Eszter Salamon „noir“ oder „lumière“, als müsste die Erinnerung, dass es sich um Bühnenkunst handelt, wiederhergestellt werden.