INDIEN UND PAKISTAN BRAUCHEN KASCHMIR, UM SICH ABZUGRENZEN
: Religionen als Staatsdoktrin

Der jüngste Misserfolg des Gipfeltreffens zwischen Indien und Pakistan zeigt erneut: Der Konflikt um Kaschmir ist heute ebenso virulent wie vor 54 Jahren, als die Bildung der beiden Staaten Südasiens auch Kaschmir entzweischnitt.

Um es mit Samuel Huntington zu sagen: Die Grenze ist eine „Line of Control“, eine Zivilisationsgrenze zwischen der polymorphen, „inklusivistischen“ Kultur der Hindus und der monotheistischen, doktrinären islamischen Welt. Die Kriege von 1948, 1965 und 1971 waren jedoch weniger Ausdruck eines „Clash of Civilisations“ als Auseinandersetzungen über Huntingtons These, dass Religionen die Grundlagen sind für künftige Konflikte.

Pakistan, das „Land der Reinen“, versteht sich als Heimat aller Muslime des Subkontinents. Kaschmir ist daher mit seiner muslimischen Mehrheit ein natürliches Erbteil, das Pakistan bei der Teilung Indiens zu Unrecht vorenthalten wurde. In dieser Forderung schwingt die Auffassung mit, dass kein säkularer Staat und schon gar nicht eine andersgläubige Mehrheit die Geschicke der Muslime lenken darf. Nation und Religion und Staat sind letztlich eins. In diesem Verständnis braucht Pakistan den Kaschmirkonflikt, um sich als Einheit (nach innen und außen) zu definieren.

Indien verwahrt sich gegen diese These. Es versteht sich als eine Zivilisation, in der jede religiöse Ausdrucksform Platz findet und in der die Gemeinsamkeit von Territorium und Geschichte „Zivilisation“ ebenso definiert wie Religion. Es ist eine Auffassung, die zwar wesentlich vom Hinduismus geprägt ist, die aber im säkularen Staat ihre moderne Ausdrucksform gefunden hat. Kaschmir ist der einzige Bundesstaat des Landes mit einer muslimischen Mehrheit. Wenn Indien Kaschmir abgäbe, so die Ansicht von Regierung und Opposition in Delhi, erlaubte es auch eine „sektiererische“ Auffassung von Zivilisation. Was aus dem fernen Europa wie ein unnützer Konflikt um eine unzugängliche Schneeregion aussieht, ist in Wahrheit eine Auseinandersetzung um zwei Auffassungen dessen, was eine Gesellschaft „einschließt“ – und was sie „exklusiv“ macht. BERNHARD IMHASLY