Was tatsächlich geschehen ist ...

■ Zum 80. Geburtstag eines wegweisenden Filmers des „Cinéma Vérité“: Das Metropolis zeigt Filme von Richard Leacock

Nicht nur über Geschmack, auch über Wahrheit lässt sich streiten. Von heutiger, an Vernunftkritik und Dekonstruktivismus geschulter Warte aus ist es leicht, die Emphase zu kritisieren, mit der in den 60er-Jahren das „Cinéma Vérité“ aus der Taufe gehoben wurde.

Nahezu zeitgleich machten es sich damals Filmemacher an verschiedenen Enden dieser Welt zur Aufgabe, durch das Zurücknehmen der Apparaturen des Filmens selbst das Geschehen möglichst unauffällig aufzunehmen und selbst nicht einzugreifen, mithin Wirklichkeit weitgehend unverfälscht wiederzugeben. Das firmierte dann kurioserweise in den USA unter dem oben genannten Namen, in Frankreich unter dem englischen Label „Direct Cinema“, wurde in Kanada „Candid Eye“ genannt und in Großbritannien „Free Cinema“.

Richard Leacock, den das Metropolis zu seinem 80. Geburtstag mit einer Schau jüngerer Filme ehrt, gehört zu den wegweisenden Dokumentarfilmern diesen Stils. Heute möchte er, der als Assistent von Robert Flaherty seine Laufbahn begann, den damals begründeten Anspruch objektiver Wahrheit beim Filmen allerdings kaum mehr verteidigen; zu offensichtlich sind die damit verbundenen Fallstricke, zu nahe liegend das Argument, allein die beim Schnitt getätigte Auswahl des Regisseurs beeinflusse den Wahrheitsgehalt des Gezeigten. Leacocks Äußerung aus dem Jahr 1961, es gelte zu filmen, „was im absolutesten Sinn tatsächlich geschehen ist“, hat dennoch einen seinerzeit berechtigten und lange fortwirkenden Einfluss gehabt.

Zusammen mit Robert L. Drews und Donn Allen Pennebaker machte Leacock um 1960 das Arbeitsverfahren des mobilen Tonfilms weltweit bekannt. Voraussetzung dafür waren erst jüngst entwickelte Techniken der synchronen Tonaufnahme, und die Verwendung einer mobileren 16mm-Kamera hob die Statik der bis dahin bekannten Dokumentarfilme auf.

Furore machte das Verfahren deshalb, weil dokumentarische Filme nicht nur durch ihre propagan-distische Verwendung während des Kriegs, sondern auch danach durch das Fernsehen reichlich auf den Hund gekommen war: Es entstanden immer mehr Auftragsarbeiten für die Industrie, und auch das Genre des Reisefilms musste sich immer mehr den kommerziellen Inte-ressen der Fremdenverkehrsvereine beugen. Die Suche nach einem neuen Begriff für nicht-fiktionale Filme hatte daher vor allem polemischen Charakter. Heute lässt sich der Objektivitätsanspruch vielleicht dahingehend modifizieren, dass es um eine „Annäherung“ an Wahrheit, vielleicht einfach um das Stärken einer anderen als der bekannten „Wahrheit“ gegangen ist.

Inzwischen scheut sich Leacock nicht, sehr subjektive Filme zu machen. Zwar hält er bis heute an dem Anspruch fest, durch die Kamera – mit dem jeweiligen Stand der aktuellen Technik angepassten Mitteln – größtmögliche Mobilität und Nähe zum Geschehen zu erzielen. Doch Les vacances de Monsieur Leacock (1992) über eine USA-Reise, seine Hommage an Helga Feddersen, Tonfrau eines seiner für den NDR gedrehten Filme, Gott sei Dank (1993) und A Hole in the Sea (1994) über den Kanaltunnel – zusammen an einem Abend im Metropolis zu sehen – sind allesamt sehr persönlich gehaltene Filme. xml

Do, 21.30 Uhr, Metropolis