Selbstreferenzieller Kosmos

Die Grünen kapitulieren im Namen ihrer neuen „Grundwerte“ vor der Wirklichkeit. Sie weichen allen Konflikten elegant und wortreich aus, um in Harmonie zu verharren

Wie müsste einProgrammentwurf die Probleme bearbeiten? Es geht nur durch Negation

Soll man bei der Erarbeitung eines politischen Programms mit „Grundwerten“ beginnen? Oder soll man erst einen Blick „aufs Ganze“ werfen? Untersucht man den Aufbau des Bundesprogramms der Grünen von 1980, so fällt ins Auge, dass die dort entwickelten vier „Grundsätze“, die „vier Säulen“ (ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei), eng mit einer Analyse des damaligen Weltzustandes verbunden wurden. Gut, diese Analyse hatte eine Schlagseite in Richtung „nahende Katastrophe“, sie war einseitig, sie war utopisch in ihrer Perspektive, aber sie enthielt, wie wir nach zwanzig Jahren beurteilen können, eine gehörige Portion Realität. Und: Sie erlaubte es, konsistente Schlussfolgerungen zu ziehen.

Dass in dem Programm von 1980 die Ausbeutung der Natur und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eng aufeinander bezogen wurden, war Ausdruck der damaligen Bündniskonstellation, denn an der Wiege der Grünen stand nicht nur die Angst, sondern auch die revolutionäre Hoffnung. Dieser Bezug verdankte sich aber auch dem gemeinsamen beharrlichen Blick auf die Entwicklung der globalen wie der nationalen Verhältnisse. Der Programmentwurf der Bündnisgrünen von 2001 nimmt nun hingegen von vier „Grundwerten“ seinen Ausgang: ökologisches Denken (Nachhaltigkeit), Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Demokratie. „Gewaltfreiheit“ wird nicht mehr als Mittel, sondern als Ziel definiert, durchzusetzen in dem Maße, in dem die vier „Grundwerte“ weltweit Wirklichkeit werden.

Die „Grundwerte“ werden sinnreich in Beziehung zueinander gesetzt, ausdifferenziert, nicht aber in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Gegenläufigkeit entwickelt. Das wäre nur möglich, wenn man sie systematisch am Ort ihres Entstehens und ihrer Entwicklung, nämlich in den gesellschaftlichen Verhältnissen, aufsuchen würde. Im Entwurf von 2001 stehen sie jedoch im Tempel, man darf sie sonntags anbeten – um dann zur Tagesarbeit zurückzukehren.

Nehmen wir als Beispiel den im Programm der Grünen alles überwölbenden „Grundwert“ der Selbstbestimmung. Er enthält das Ideal positiver Freiheit, er ist Voraussetzung der Selbstverwirklichung, also der Freisetzung aller Potenziale, die im Menschen angelegt sind. Dies im Gegensatz zur negativen Freiheit, die dem Schutz des Individuums vor den Übergriffen des Staates dient. Schön gedacht, bloß welche Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung meint der Entwurf eigentlich? Die des Konzerns Mannesmann, wenn er von selbstbestimmter Gruppenarbeit zwecks Rationalisierung der Produktion spricht? Oder die Selbstbestimmung, die der Vorsitzende der Gewerkschaft Ver.di als Voraussetzung zeitgemäßer gewerkschaftlicher Arbeit bezeichnet?

Ein Rekurs auf die Wirklichkeit unserer Gesellschaft belehrt uns, dass der Selbstbestimmung als positivem Lebensideal die Flexibilisierung, die Alertheit, die Anpassung an sich verändernde Bedingungen auf den Fersen sind. Selbstbestimmung droht in permanenter Leistungsbereitschaft aufzugehen. Und je mehr wir unsere Individualität ausleben wollen, desto mehr greifen wir zu standardisierten Produkten und Überzeugungen. Im Namen der Selbstbestimmung begeben wir uns in neue Zwangsverhältnisse.

Wie müsste ein Programmentwurf dieses Problem bearbeiten? Es geht nur durch Negation. Indem nachgewiesen wird, was Fremdbestimmung bedeutet, und zwar nicht nur allgemein, sondern tagtäglich. Jede Bestimmung ist Negation, sagte schon einer der Gründerväter der Dialektik. Nur indem wir die Übel der Welt benennen, werden wir Klarheit gewinnen über unsere Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung.

Nicht, dass es im Programmentwurf der Grünen an kritischen Elementen fehlen würde. Aber sie werden eingezwängt in ein Definitionssystem voll Abgewogenheit und Harmonie. Jeder Übelstand wird, kaum dass er benannt ist, zur „Herausforderung“, der man am besten mit der Balancierstange begegnet.

So heißt es etwa hinsichtlich der Globalisierung richtig, dass sich „transnationale Wirtschaftsunternehmen als souveräne Subjekte durchsetzen“. Und sogleich wird hinzugesetzt, dass „ein politischer und rechtlicher Ordnungsrahmen für den globalen Markt in den letzten Jahren vorangekommen sei“. Andererseits wiederum ließen die Elemente der Global Governance „in ihrer Reichweite und Verbindlichkeit noch sehr zu wünschen übrig“. O Dio! Sicher ist es richtig, auch den Prozess der Globalisierung in seiner widersprüchlichen Gestalt, die auch Chancen einschließt, zu begreifen. Aber dass in dem Entwurf kein Wort über Rüstungsexporte der Bundesrepublik verloren wird, dass die allzu sichtbaren Gefahren einer Abschließung der EU gegen den Osten wie den Süden unerwähnt bleiben, dass es zur Einwanderung nur ein paar verlegene Formeln gibt, das ist die Kapitulation vor der schlechten Wirklichkeit im Namen der „Grundwerte“.

Im Namen derSelbstbestimmung begeben wir uns in immer neue Zwangsverhältnisse

Wie kommt eigentlich das „Prinzip Verantwortung“ in die Welt, das die Bündnisgrünen der Selbstbestimmung quasi als Korrektiv zur Seite stellen? Verantwortung ist auch kein Produkt des intellektuellen Mittelstands, der genug Muße und Antrieb hat, um über das Gemeinwohl nachzudenken – bis er in die Krise gerät. Verantwortung wird artikuliert, wird gelebt von politischen Minderheiten, von Utopisten, von Querdenkern, von Unbequemen und Unangepassten. Sie bildeten und bilden das Ferment der sozialen Bewegungen. Im Programm von 1980 wird das Spannungsverhältnis von Parteirepräsentation und sozialer Bewegung zwar zu stark zugunsten der Bewegungen aufgelöst, aber immerhin existierte ein Bewusstsein, wovon eine grüne Partei eigentlich lebt und worauf sie sich immer wieder zurückbeziehen muss. Davon kein Gedanke mehr im selbstreferenziellen Kosmos der grünen Werte. Man sage nicht, soziale Bewegungen hätten sich in unseren Breiten verabschiedet. Von Gorleben bis Genua sind sie ziemlich lebendig und fordern die – auch kritische – Auseinandersetzung.

Natürlich gibt es keinen Weg zurück zum Programm von 1980 mit seinen unbedingten Gewissheiten, Ängsten und Hoffnungen. Aber so, wie der Programmentwurf sich jetzt präsentiert, lädt er zu den Grabesreden ein, die allerorten zu hören sind: Endlich sind die Grünen erwachsen geworden und in der Realität angekommen. Weil das so ist, sind sie eigentlich überflüssig. Dem gegenüber wäre darauf zu beharren, dass der Entwurf zwar in Grundwerten schwelgt, es aber entschieden an Wirklichkeitssinn, an Erkenntnis über die Welt, wie sie nun mal ist, fehlen lässt. Und Negativität als Erkenntnisprinzip ist keine lässliche Jugendsünde, sondern Vorbedingung jeder kritischen Programmarbeit. Bis zum Beweis des Gegenteils, nämlich der Verabschiedung des Programms in der gegenwärtigen Form, weigere ich mich zu glauben, dass das emanzipatorische Potenzial, das immer noch bei den Grünen versammelt ist, diesen Entwurf schlucken wird. CHRISTIAN SEMLER