Blue Nites

Wenn der Bassist aussieht wie Marcel Proust: Jacky Terrasson, Leon Parker und John Smith jazzten im Tränenpalast

Schattenlicht am Spätnachmittag. Auf der Bühne sind die Musiker des Jacky-Terrasson-Trios beim Soundcheck. Das quer gestreifte T-Shirt von Jacky Terrasson erinnert an Picasso in der Provence. Ein ähnliches trägt er auch auf einem Foto auf seinem letzten Album-Cover von „A Paris ...“, das Anfang des Jahres erschien. Er sitzt am hauseigenen Bechstein-Flügel und spielt einen trägen Blues, danach einige Takte aus „Lover Man“. Billie Holiday taucht kurz auf, ein kehliges Lachen, das sich im Rauch einer längst gerauchten Zigarette auflöst. Dann sieht man Terrasson vor einem uralten Seventy Three Fender Rhodes. Seine Finger gleiten mit einer Schnelligkeit über die Tasten, als ob sie kaum Zeit hätten, den Ideen im Kopf des Pianisten zu folgen. Hinter ihm hält Proust einen abgeschabten Bass. Eigentlich war Terrassons langjähriger Bassist Ugonna Okegwo angekündigt, der diesmal keine Zeit hatte. Stattdessen steht John Smith auf der Bühne. Mittelgescheitelt, mit Schnurrbart und durchscheinender Blässe. Etwas unsicher, aber bemüht. Dafür ist Leon Parker dabei, wie immer mit roten Sticks, aber jetzt bartlos und im Kojack-Format. Mit ihm gründete Terrasson vor sieben Jahren sein Trio.

Bis zum Konzertbeginn ist noch Zeit. Die Band geht am Ufer spazieren, isst etwas im Garten, das T-Shirt wird zum Hemd. Um zehn Uhr ist der Himmel dunkel. Jacky Terrasson steht am Ausgang des Biergartens vom Tränenpalast und schaut in einen Ausschnitt der Stadt, in der er vor 35 Jahren geboren wurde. Ein Standortszufall. Mutter Französin, Vater Amerikaner, sie blieben nicht lange. Er studierte am Berklee College of Music in Boston, tourte ein Jahr mit Betty Carter, gewann 1993 den T.-Monk-Wettbewerb und damit den Blue Note-Plattenvertrag. 1994 erschien seine erste von jetzt sieben CDs. Die neueste, „Moon and Sand“, ist vor einer Woche herausgekommen.

Es ist das Abschlusskonzert der Konzertserie „Blue Nites“, die zum zweiten Mal im Tränenpalast stattfand. Ein Versuch, auch hier einen Sommerstandort für Jazz zu etablieren. Sponsorengelder haben es möglich gemacht und so sitzt Jacky Terrasson jetzt auf der Bühne und beginnt sofort zu improvisieren. Erst später lässt er das Thema von „Bye Bye Blackbird“ erkennen, dem Henderson-Dixon-Klassiker aus seinem Debutalbum „Jacky Terrasson“. Er spielt ohne Noten, hat alles im Kopf, im Gefühl. Seine Hände massieren die Tasten, lösen sich nach oben, fallen nach unten, um kurz zu verharren und weiterzulaufen. Wie Insektenbeine. Krabbelnd, fedrig auseinanderspringend. Er spielt laut, fordernd, um dann leise zu werden. Schließlich kommt Hoagy Carmichael’s „Georgia On My Mind“ und bei einem erneuten Tastenflug landet der Griff daneben. Mit einem „Aah, fuck you!“ spielt er weiter. Er muss lachen, lehnt sich zurück und gibt Proust ein Zeichen. Er soll das nächste Stück anfangen. Der Schnurrbart verschwindet hinter dem Bass, einem wirklich guten Instrument, um sich dahinter zu verstecken. Als nichts passiert, fängt Leon Parker an. Alle warten auf Prousts Einsatz, aber der Bass schweigt. Terrasson übernimmt wieder. Dicht, treibend. Der Schweiß tropft ihm vom Gesicht auf die Tasten, rinnt über seinen Rücken. Zwischendurch steht er auf, überlässt Proust und Parker das Geschehen und kommt wieder in seinem gestreiften T-Shirt. Nach zwei Stunden ist er fertig. Eine Zugabe, dann noch eine. Am Schluss eine gemeinsame Verbeugung, ein gemeinsamer Abgang. Und niemand kann Proust böse sein. MAXI SICKERT