Spider und seine Freunde

Demonstrationen und andere Events: Es muss nicht immer die Love Parade sein. Eine Alternative von JOCHEN SCHMIDT

Love Parade in Berlin, meine Planungen, die Stadt zu verlassen laufen auf Hochtouren. Beim Proviantkauf treffe ich Spider, er will mit Volker zu einem Goa-Festival. Ich sage lose zu, mitzukommen. Wieder bei mir, male ich mir aus, wie ich am Treffpunkt S-Bahnhof Schönhauser Allee neben der Pinkelecke auf die beiden warte. Wie wir nach Falkensee fahren und unterwegs unsere Plastetrinkflaschen vergleichen. Meine hat einen roten Becher, ist aber schon ganz braun vom Tee. Spider hat eine aus Ungarn mit aufgedrucktem Totenkopf, und Volker hat eine aus dem Westen, in die geht viel mehr rein, obwohl sie kleiner ist. Aber dafür hat seine Mutter ihm nur Pfeffitee gemacht, den kippt er jetzt aus dem Fenster, wobei die Hälfte ins nächste Abteil wieder reinspritzt.

Wir spielen Autokarten, das Spiel mit den Prototypen: „200 KmH“ „250 KmH“ „12 Zylinder“ „12 Zylinder Boxer“ „2000 Umin“ „2500 Umin“. Spider hat einen Biene-Maja-Aufkleber auf seiner Stullenbüchse und Marmelade auf den Stullen. Ich habe Apfelstückchen und Wurststullen. Volker hat Hunger. Wir pinkeln aus dem fahrenden Zug und versuchen, mit unseren Taschenmessern die Armlehnen abzuschrauben. Wenn jemand guckt, tun wir so, als wären wir behindert.

Vom Bahnhof bis zum Goa-Festival streiten wir uns die ganze Zeit, wer die Sani-Tasche trägt. Volker, der sie zuletzt hatte, versucht sie uns um den Hals zu hängen, schafft das aber nicht. Beleidigt lässt er sie einfach am Wegrand liegen, und wir sehen nicht ein, warum wir sie aufheben sollen. Er redet nicht mehr mit uns, und wir geben ihm nichts von dem Sanddornsaft ab, den wir in unseren Flaschen haben. Auf dem Goa-Festival sind wir noch ziemlich die ersten, die anderen tragen FDJ-Hemden und basteln an langen Fackeln. Überall dieser Ostalgie-Quatsch. Wir schicken Volker zum Org-Punkt, er sieht am ältesten aus und bekommt tatsächlich Fassbrausecoupons. Damit stellen wir uns am Stand an.

Ein paar Sachsen, die vor uns stehen, suchen Streit. Auf ihren Jeansjacken steht in Form eines Kreuzes „Bon Scott“. Wir tun wieder so, als wären wir behindert. Das macht sie aber erst recht wütend, weil sie denken, dass wir sie nachmachen. Wir stromern über das Gelände, hier und da stehen ein paar tanzende Grüppchen. Da noch keine Musik aufgelegt wird, tanzen sie einfach so.

Am Stand von amnesty international entdecken wir überraschenderweise Dan. Er und seine Mitarbeiter tragen indische Turbans und haben rote Punkte auf der Stirn. Sein ganzer Oberkörper ist mit Telefonnummern bekritzelt. Wir sollen ihm helfen, die vom Rücken abzuschreiben. Er gibt uns aber keine einzige ab. Er fragt uns, wo wir unsere Sani-Tasche haben, und macht uns Angst, weil es heute bestimmt noch Kontrollen gebe. Spider klaut den Sachsen ihre Sani-Tasche, während Volker und ich sie mit einem Gespräch über die Neue von AC/DC ablenken.

Endlich geht die Musik los, das ist also Goa, ich will Spider fragen, wie lange so ein Stück geht, er sieht mich an und antwortet nicht, er hat sich beim Küssen mit LSD angesteckt und fragt nicht mehr, wann das alles oder irgendetwas anderes zu Ende ist. Volker steht missmutig hinterm amnesty-Stand, Dan hat ihn vor einer Stunde gebeten, ihn mal kurz zu vertreten. Ich stoße beim Tanzen gegen einen der Sachsen, der mir sofort Schläge anbietet. Er sieht mich scharf an, und fragt: „Bist du nich son Gumpel von dem Andreas Kläser?“

Ich bejahe eilig, und er klopft mir auf die Schulter, die Freunde seiner Freunde sind auch seine Freunde. Sofort bin ich von seinen Freunden umringt und muss mit ihnen trinken. Es sind alles eingefleischte Dynamo-Dresden-Fans, bei denen Andreas Gläser eine Legende ist, seit er wegen einer verlorenen Wette mit zweihundert anderen BFCern zu Dynamo Dresden übergetreten ist. Ich suche Spider und Volker, um sie den Sachsen vorzustellen, aber Spider ist nicht mehr ansprechbar, er starrt inzwischen eine Frau an, die ihn ebenfalls anstarrt, beide stehen reglos da, und ich habe Angst, sie umzukippen.

Volker steht immer noch hinter dem amnesty-Stand, Dan hat sich nicht blicken lassen, und Volker ist stinksauer, weil er aufs Klo muss und ihn ständig irgendwelche Mädchen fragen, wo der Typ hin ist, der aussieht wie Stefan Raab, der wollte doch ihre Telefonnummer haben.

Gegen Mitternacht wird der Hauptact angekündigt, DJ Mahatma legt auf. Hinter dem Pult taucht ein kurzhaariger Typ mit Kassengestell auf, der vor sich hin starrt und dabei Platten auflegt. Die Menge tobt, aber er scheint das gar nicht zu bemerken. Sie bauen ihm einen Altar aus Fackeln und tanzen um ihn herum. Es ist Robert Naumann, der noch gestern angeblich mit seinem Vater nach Karl-Marx-Stadt musste, um die neuen Fliegenvorhänge anzuschrauben. Jetzt steht er also hier beim Goa und heizt der Menge ein. Ich suche Dan, um ihm das zu erzählen, aber da bin ich nicht der einzige. Denn während die Sachsen mit dem großen Zeh wippen und geduldig auf das Fußballspiel warten, wegen dem sie eigentlich hier sind, laufen aufgeregt gestikulierende Teenagerinnen übers Gelände und suchen nach Stefan Raab, der nur mal kurz ihre Handtasche halten sollte.

Ich habe für heute genug, meine Trinkflasche ist auch schon alle, und die Apfelstücken schmecken inzwischen nach den Wurstbroten. Ich gehe den Weg zurück, finde die Sani-Tasche und baue mir aus der Mullbinde und dem schwarzen Tuch für Armbrüche ein Zelt für die Nacht.

Am nächsten Morgen gehe ich zurück, binde Spider an eine der Frauen, die ihm gegenüberstehen und ihn anstarren, gebe den beiden einen Stups Richtung Bahnhof und hole Volker vom amnesty-Stand ab. Er hat die ganze Nacht hier ausgeharrt und ist dabei nicht ein Info-Blatt losgeworden. Nur die Sachsen haben ein paar genommen, weil sie Klopapier brauchten. Er ist stinksauer und redet aus den verschiedensten Gründen mit niemandem mehr. Wir fahren zurück, und ich überlege, ob ich wegen Dan eine Vermisstenanzeige aufgeben soll. Aber dann lese ich in einer herumliegenden Bild-Zeitung die Schlagzeile: „Ist das noch witzig? Diese Mädchen suchen Stefan Raab.“ Darunter Fotos von weinenden Teenagern: „Melanie aus Marzahn: Er hat mir einen Plattenvertrag versprochen. Dabei kann ich gar nicht singen.“

„Cindy aus Mitte: Ich dachte, er wollte mich, aber er wollte nur meine Unterschrift für amnesty.“ „Janine aus Tempelhof: Er wollte mich Jochen Schmidt vorstellen, aber der Typ sah ihm nicht mal ähnlich.“