Das dunkle Erbe der Vergangenheit

Immer öfter werden in Serbien Massengräber entdeckt. Expertisen zufolge sind die Opfer Albaner, die von Serben im Kosovo-Krieg ermordet wurden. Die Regierung ist entschlossen, die Wahrheit aufzudecken. Doch die Menschen tun sich damit schwer

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Die grauenhaften Verbrechen des vergangenen Jahrzehnts kommen in Serbien allmählich an die Oberfläche. In Flüssen und Seen werden Leichen gefunden, immer neue, bislang streng geheim gehaltene Massengräber werden entdeckt. Die Serben werden mit der Tatsache konfrontiert, dass der „heilige“ Kampf für das Serbentum gar nicht so heilig war.

Die furchtbare Wahrheit schmerzt und viele sind nicht bereit, sie zu akzeptieren. Die Täter, die im Auftrag des früheren Regimes handelten, schweigen. Und bei den Millionen Serben, die Slobodan Milošević auf seinem Kriegspfad zujubelten, ist von einem kollektiven Schuldgefühl nichts zu spüren.

Berichte internationaler Organisationen und Medien über von serbischen Einheiten in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo begangene Kriegsverbrechen wurden unter Milošević als „antiserbische Propaganda“ abgetan. Trotz des Risikos, an Popularität zu verlieren, versuchen die Regierung und die Medien, die Bevölkerung mit den Greueltaten zu konfrontieren. Der Belgrader Rundfunksender B 92 diskutiert konsequent die Frage der serbischen Schuld im Krieg und irritiert sowohl einen Teil des neuen, als auch die Vertreter des alten Regimes.

Das erste Massengrab nach der Wende in Serbien wurde in Batajnica, einem Belgrader Vorort, auf Polizeigelände entdeckt. Gerichtsmediziner bestätigten, dass es sich um rund vierzig Leichen handelte, darunter Kinder, Frauen und ein sechs Monate alter Fötus. Gefundene Dokumente belegten, dass es sich um Albaner aus dem Dorf Suva Reka im Kosovo handelt. Genaue DNA-Analysen stehen noch aus.

Aufnahmen der verwesten Leichen wurden im Fernsehen gezeigt. „Das ist alles gelogen. Die Bilder sind montiert“, empört sich Ivica Dacić, hoher Funktionär der Milošević-Sozialisten und Abgeordneter im serbischen Parlament. Im Auftrag der Nato wollten die neuen Machthaber dem früheren Regime Kriegsverbrechen anhängen, um die Luftangriffe auf Jugoslawien zu rechtfertigen.

„Ich will besser verdienen, besser leben und man soll mich endlich mit Leichen, Massakern und sonstigen Verbrechen in Ruhe lassen“, sagt der vierzigjährige Elektriker Nenad verärgert. Das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ ist in Serbien weitgehend unbekannt. Doch im „Namen der Wahrheit“ lässt die serbische Regierung nicht locker.

Das Innenministerium bestätigte in der vergangenen Woche, dass an der Grenze zu Bosnien in einem Stausee bei Perucac weitere siebzig Leichen entdeckt worden seien. „Schon in der kommenden Woche werden in Serbien Prozesse gegen jugoslawische Staatsbürger, die Kriegsverbrechen begangen haben, beginnen“, erklärte Justizminister Vladan Batić. Dem jugoslawischen Militärgericht liegen über siebzig Anklagen gegen Soldaten vor, die Verbrechen an Zivilisten im Kosovo begangen haben sollen.

In der aufgeheizten Stimmung brachte das serbische Staatsfernsehen am 12. Juli, dem Jahrestag des Massakers im bosnischen Srebrenica, erstmals einen Dokumentarfilm der BBC. Die Serben sahen, wie die Armee der bosnischen Serben kaltblütig mindestens dreitausend Muslime vor den Augen niederländischer Soldaten hinrichtete. Daraufhin forderten die Abgeordneten der Serbischen Radikalen Partei im serbischen Parlament, dass ein Ausschuss den „Verantwortlichen“, der diese „antiserbische Propaganda“ im staatlichen Fernsehen senden ließ, ausfindig machen und bestrafen solle. Abgeordnete der Serbischen Demokratischen Partei, deren Vorsitzender Jugoslawiens Präsident Vojislav Kostunica ist, distanzierten sich nicht von dieser Forderung. Man konnte im Parlament hören, dass der Name der „serbischen Helden“ Radovan Karadzić und Ratko Mladić nicht beschmutzt werden dürfte und dass die „angeblichen“ Massengräber und der Film über das Massaker in Srebrenica weitere Auslieferungen jugoslawischer Staatsbürger an das Haager Tribunal für Kriegsverbrechen vorbereiten sollten. Am Tag darauf wurde der Film wieder gesendet, doch nach zehn Minuten unterbrochen – wahrscheinlich auf Befehl von oben. Bezeichnend auch, dass kein Vertreter Belgrads auf der Gedenkfeier in Srebrenica anwesend war.

Die Regierung sei verpflichtet, den Serben die Wahrheit zu zeigen, die Folgen der Herrschaft von Milošević, sagt Cedomir Jovanović von der Demokratischen Partei. Für diese und andere Taten sei nicht das serbische Volk, sondern das gestürzte Regime verantwortlich. Die Schuldigen müssten bestraft werden.