„Ihm steht alles offen“

Timo Lehmann gilt als großes Fußballtalent. Doch der 13-Jährige weiß nicht, wohin damit. Hertha kommt nicht Frage, TeBe hat andere Probleme, und Union ist für den Charlottenburger zu weit weg

von JÜRGEN SCHULZ

Manchmal wird Christian Juchelka nachdenklich, wenn er seinem Sohn zuschaut. Nicht dass der Junior seine Beine beim Jonglieren verknoten oder Opfer seiner Motorik würde. Im Gegenteil: Timo Lehmann zählt zu den großen Fußballtalenten in Berlin. Gekonnt lässt der 13-Jährige den Ball von Fuß zu Fuß tanzen, trickst mit Knie und Hacke. Er geht beidfüßig geschickt zu Werke. Das weckt im Zeitalter der Rumpelfüßler den Verdacht auf Klasse. Der Teenager durchläuft gerade ein Testverfahren, ob er für die deutsche Nationalauswahl der Altersklasse „Unter 14“ infrage kommt. „Was Fußball betrifft“, meint die Mutter Heike Lehmann schon beinahe ehrfürchtig, „steht dem Jungen alles offen.“

Gerade diese Freiheit bereitet dem Vater aber Kopfzerbrechen. „Ich verstehe nicht, weshalb es keine Beratungsstelle für Fußballtalente gibt. In anderen Berufen existiert so was doch auch.“ Eines steht fest: Beim Berliner AK, Timos letztem Club, hat Juchelka den Sohn fristgerecht zum 30. Juni abgemeldet. Der Jugendtrainer des Weddinger Clubs gebe sich zwar redlich Mühe, „aber der arbeitet halt ehrenamtlich“. Wohin dann mit so viel Talent?

Ein Bekannter hat der Familie angeboten, dem Rotschopf, der wie viele seiner Altersgenossen eine Zahnspange trägt, eine Ausbildung im Fußballinternat mit Bundesliga-Anschluss zu finanzieren. Rostock oder Bremen kämen in Frage, so Juchelka. Freiburg hingegen sei viel zu weit. „Wir wollen ja noch etwas von unserem Sohn haben.“ Er weiß, dass Timos Gönner keineswegs aus uneigennützigen Gründen Geld vorstrecken würde. Eine Investition könnte sich später in klingender Münze auszahlen, falls der Junge den Durchbruch schafft in einer Branche, in der Kids für Spielerberater interessant sind und feste Verträge mit Profivereinen abschließen.

Timos sportliche Heimat in Berlin wäre naturgemäß Hertha BSC, die Nummer eins der Hauptstadt. Timo und sein Vater geben sich als „eingefleischte Hertha-Fans“ zu erkennen, die zu jedem Spiel ins Olympiastadion gehen. „Aber Hertha kommt mit seinem Jugendinternat nicht in die Puschen“, sagt Juchelka.

Das Projekt „Home of Hertha“, ein rund 30 Millionen Mark teures Vorhaben auf dem früheren Reichssportgelände am Olympiastadion, existiert vor allem auf Planungsskizzen. Noch etwas schreckt den Papa ab: Herthas Bundesliga-Trainer, Jürgen Röber, gilt nicht als Freund der Jugend. Nachwuchsspieler, die zuletzt den Sprung in den eigenen Profi-Kader schafften, sind inzwischen gestandene Mittzwanziger. Nur der 20-jährige Thorben Marx wird es in diesem Jahr schaffen.

Hinter vorgehaltener Hand lassen manch enttäuschte Jugendbetreuer ihrem tiefen Frust freien Lauf.

„Wenn man die Jahre der kontinuierlichen Arbeit anschaut, weiß man, dass wir gegenüber Hertha die Nase vorn haben“, sagt Olaf Schweunecke, Jugendleiter bei Tennis Borussia. Timo tendiert deshalb zu Herthas Erzrivalen. „Von denen kenne ich einige Spieler aus der Berliner Auswahl. Aber ich weiß nicht, was aus TeBe wird“, sagt Timo. Bei den Borussen ist der Sponsor „Göttinger Gruppe“ ausgestiegen. Seitdem wird die Krise verwaltet.

Momentan müht sich der für seine gute Nachwuchsarbeit ausgezeichnete Verein, die Arbeit auf ein neues finanzielles Fundament zu stellen. Zuletzt investierten die Charlottenburger rund eine Million Mark pro Jahr in den Nachwuchs. „Von der C-Jugend bis hinunter zu den Minis haben wir einen neuen Partner gefunden“, sagt Jugendkoordinator Erhard Rösler.

Die C-Jugend wäre die Altersklasse von Talent Timo. Wird er also ein Borusse? Wohl kaum, nachdem „Tennis uns mächtig verarscht hat“, wie sein Vater sagt. „Erst die Einladung zum Probetraining und dann kein Anruf mehr.“ TeBe hat derzeit offenbar doch wichtigere Probleme zu bewältigen als die Sichtung und Förderung des fußballerischen Nachwuchses.

„Wenn wir woanders wohnen würden, käme auch Union in Frage“, meint Juchelka. Der Aufsteiger aus Köpenick, der durch den Einzug ins Pokalfinale für Furore sorgte, stellte seine Basisarbeit vor einem guten Jahr auf professionelle Beine. 750.000 Mark beträgt der Etat für den Nachwuchs, der von hauptamtlichen Ausbildern mit modernen Spielsystemen vertraut gemacht wird.

Wie Hertha und TeBe mit der Charlottenburger Poelchau-Schule, so kooperiert Union eng mit der Flatow-Schule am Müggelsee. Aber den langen Weg vom Wohnort Charlottenburg zum Training in das Stadion „Alte Försterei“ an der Wuhlheide wollen Timos Eltern ihrem Sohn nicht zumuten.

Hinter den „großen Drei“ – Hertha, TeBe und 1. FC Union – klafft in der Hauptstadt ein Loch, in das der junge Kicker fallen könnte. Es sei denn, das Talent entschlösse sich doch noch zum Auswandern in eine andere Fußballmetropole. Vorerst wird Timo aber in Berlin bleiben. Er geht nach langem Hin und Her zum BSC Rehberge, einem Landesligisten. „Da läuft alles sehr professionell“, sagt der Vater, und auch Timo freut sich über „Prämien im Taschengeldbereich“. Anfang September steht das erste Pflichtspiel an.

Und die große Fußballkarriere – was wird daraus? „Mal sehen, ich weiß ja noch gar nicht, ob ich überhaupt Profi werden will“, sagt Timo. „Zum Glück“, sagt seine Mutter, „hat Timo in der Schule gute Noten.“ Demnächst will der Charlottenburger Junge zur Berufsberatung.