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„Die Leere ist nicht lehrbar“

John de Ruiter gilt als „typischer Neuoffenbarer“. Seit zwölf Jahren lassen sich in seiner Nähe immer mehr Jünger nieder, weltweit wächst eine immer größere Anhängerschaft, die sich zum „Satsang“ trifft. Sie fordert Körper ohne Handelnde

An den Lippen des Meisters bleibt man auf der Suche nach Lebenssinn hängen

von PETRA WELZEL

Manche vergleichen ihn mit Jesus, den Mann mit den schulterlangen, gekräuselten blonden Haaren aus Edmonton, Kanada, dem Ort der diesjährigen Leichtathletik-WM. Mit seinem gestutzten Vollbart und den stechend hellblauen Augen sieht John de Ruiter eher wie ein Nachfahr der Wikinger aus. Wenn er – wie so oft – ein kariertes Flanellhemd trägt, mehr wie ein Holzfäller aus dem Land, in dem er lebt. Untersetzt und kräftig wirkt er. Von so einem Kerl würde man sich gern die Kohlen in den Keller schippen oder das neue Sofa liefern lassen. Für einen Augenaufschlag aus seinem freundlichen Gesicht würde man ein unerhörtes Trinkgeld lockermachen. Aber ihm dafür gleich göttliche Absolution erteilen?

John de Ruiter versteht es, Menschen mit einem Blick um den Finger zu wickeln. 15 Minuten kann der andauern, ohne dass er auch nur mit der Wimper zuckt, geschweige denn den Augapfel bewegt. Ist man in diesen Augen ertrunken, hat seine sanfte Stimme leichtes Spiel.

Ganz einfach sei es, nur wahr zu sein. „Alles, was es kostet, sind deine persönlichen Wünsche und Bedürfnisse, ist dein persönlicher Traum, deine Illusion.“ Das klingt nach franziskanischer Demut, Bhagwan und buddhistischer Erleuchtungslehre in einem. Loslassen von dem, was Verlangen und Gefühle fesseln. „Wenn du dann fortfährst, die Wahrheit zu dem Punkt vordringen zu lassen, wo sie alles in dir ersetzt, was unwahr ist, dann erreichst du wahre Form. Du wirst dein wirkliches Selbst erkennen und die Wirklichkeit leben, als du noch sehr, sehr jung warst.“ Wer wollte das nicht, wieder unschuldig durchs Leben ziehen wie ein Kind, wunschlos glücklich? Man sehnt sich nach Regression, und John de Ruiter verspricht sie einem. An den Lippen des selbst ernannten Meisters bleibt man auf der Suche nach Lebenssinn und Erkenntnis hängen.

Und der Meister fordert nicht weniger als eine Katharsis der Seele, eine Art rituelle Reinigung des eigenen Geistes, um dann am Nullpunkt erneut anzufangen. „Du beginnst, als ein wirklich menschliches Wesen zu wachsen, ein geliebter Diener der Wahrheit, anstatt zu einem Sklaven deiner eigenen Illusion zu mutieren.“

Es ist immer wieder dasselbe, wenn John de Ruiter Menschen um sich schart, ob in Kanada, Australien, Indien oder Europa. Unendliche Minuten lang blickt er dem einen oder der anderen in die Augen, schweigt. Alle schweigen. Manchmal stundenlang. Bis John de Ruiter redet, sie auffordert, zu ihm zu kommen und ihn zu befragen. Mittlerweile ist der Andrang zu seinen Sitzungen so groß, dass die Teilnehmenden über eine Leuchtschriftanlage im Saal informiert werden, sich schon vorab zu melden, wenn sie Fragen an den Meister haben. Per Leuchtschrift wird dann auch ihr Name später eingeblendet, das Zeichen, neben John de Ruiter Platz zu nehmen. Und zu fragen. Und wieder antwortet der mit verklausulierten Sätzen über das wahre Sein. Er könnte es auch mit den Worten eines Zen-Meisters definieren: „Die Leere ist nicht lehrbar.“

Der 42-jährige John de Ruiter ist in der internationalen Szene der religiösen Esoterikbewegungen und Sekten noch relativ neu, obwohl sich schon vor fünfzehn Jahren in Edmonton die ersten Jünger bei ihm niederließen. Ein Kenner der Szene, der Sektenbeauftragte der Evangelischen Kirche in Württemberg, Dr. Hansjörg Hemminger, nennt ihn einen „typischen Neuoffenbarer, der eine religiöse Führerschaft beansprucht“. Vorläufig hat er ihn aber nur „archiviert“, weil sein Auftreten in Deutschland bisher keine großen Kreise gezogen habe.

Tatsächlich hat sich hierzulande aus seinen meditativen Treffen mit mehr oder weniger tiefsinniger Fragestunde und manchmal auch Gesang eine eigene bunte Bewegung begründet, die sich „Satsang“ nennt. Seit 1999 gibt es die als Verein eingetragene „Satsang Allionce“ mit Sitz in Hamburg und dem eigenen Szenejournal advaita. Deutschlands Ober-Satsang-Meister ist OM C. Parkin. Und inzwischen kann man in jeder größeren Stadt Satsangs besuchen: Satsang mit Joachim in Frankfurt, mit Elke in München, mit Maria in Stuttgart, mit Stephan in Münster oder mit Cyrus oder Gertrud in Berlin.

Alle von ihnen sind bei OM gewesen und bei ihm oder anderswo auf John de Ruiter getroffen. Sie haben gelernt, dass Satsang „Zusammensein in Wahrheit“ bedeutet oder „Zusammensein in Sein“. „Satsang fängt da an, wo jedes Konzept und jede Ideologie aufhört. Konzepte stellen die Frage nach ‚was‘, Satsang aber stellt die Frage nach ‚wer‘ “, hat OM sie gelehrt. Gemeinsam – abgesehen von de Ruiter, der sich als singulär betrachtet – berufen sie sich auf den 1879 in Indien geborenen Heiligen Sri Ramana Maharshi. „Freude und Leid“, predigte der vor rund einem Jahrhundert, „sind nur Aspekte des Geistes. Unsere grundlegende Natur ist Glückseligkeit, aber wir haben das SELBST vergessen und stellen uns vor, dass der Körper oder der Geist das SELBST ist. Diese falsche Identifikation lässt Elend entstehen.“

Joachim aus Frankfurt hat immer ein Bild von Sri Ramana Maharshi neben sich stehen, mit einer Kerze und einem Räucherstäbchen davor, wenn er „Satsang gibt“. In einem hellen, sanierten Hinterhofgartenhaus in der Frankfurter Innenstadt treffen sich zweimal die Woche zwischen 10 und 25 Menschen, um auf Stühlen, Decken und Kissen zusammenzusein in meditativer Versenkung und doch irgendwie nur darauf zu warten, dass Joachim an der Stirnwand die Stille mit Worten durchbricht oder einer unter ihnen den Mut aufbringt, sich neben ihn zu setzen und eine existenzielle Frage zu stellen.

Das Spiel des Augenblicks beherrscht Joachim mit seinen wie von einem Kajalstift gezeichneten dunklen Augen wie sein zweiter Lehrer John de Ruiter. Der ist seine Bettlektüre, seit er ihn in Hamburg kennen gelernt hat. „Entschleierung der Wirklichkeit“ heißt dessen jüngstes Werk. Joachims Botschaft lautet „in sich selbst zu Hause sein“. Das wären alle gern im Raum.

Es geht beim Satsang nicht um weltbewegende Fragen wie in Platons „Gastmahl“ oder Raffaels „Schule von Athen“. Oder wie es die ursprüngliche hinduistische Philosophie von der Ungetrenntheit der Seele und der Welt einst anstrebte. Hier dreht sich alles nur um den eigenen Nabel. Eine Frau lässt sich von ihrer Freundin den Unterleib streicheln. Der Regelschmerz. Eine andere Frau sitzt in der ersten Reihe im Lotossitz vor Joachim und seufzt immer wieder raumdurchdringend auf. Neben ihm hat auf dem roten Kissen eine schmale Frau mit dunklem, halblangem Haar Platz genommen und kämpft gegen Tränen an. Eine Beziehungskrise. Sie müsse lernen, bei sich zu sein, sagt Joachim, um frei zu sein für eine Beziehung, die nicht aus Ängsten, Minderwertigkeitskomplexen oder unerfüllten Forderungen besteht.

Dass mit der Liebe auch das Leiden Einzug im Leben hält, ist nämlich nicht zwingend notwendig. Ein Mantra des Satsangs lautet: „Solange das Ich da ist, gibt es Kummer. Wenn es aufhört, ist auch der Kummer verschwunden.“ Oder anders ausgedrückt: „Das Radio singt und spricht, aber wenn du es öffnest, ist niemand darin. So ist es mit meiner Existenz: Obgleich der Körper spricht wie ein Radio, ist niemand als Handelnder darin.“

Beim Satsang mit Cyrus in Berlin landet man mit einem Zettel in der Hand in einem lichten Charlottenburger Hinterhofzimmer mit grünen Pflanzen, plätscherndem Wasser, esoterischer Musik und liest: „Satsang ist nicht der Platz für Argumentation, emotionale Entladung oder aggressives Verhalten, jedoch unbedingt für richtiges, intelligentes Fragen, Lachen, Weinen, Schütteln, Tanzen und Sichbetrinken am Göttlichen.“ Tatsächlich hat Satsang mit Cyrus etwas von spirituellem Entertainment. Der kleine, dunkelhäutige Engländer spannt ein Netz von Charme um sich, kappt jegliche Stille kurzfristig durch eloquente Einwürfe und unerwartetes Hochschnellen.

Die Suchenden und Fragenden halten sich hier kaum ans Schweigen, an keine Reihenfolge. Setzen sich auch nicht unbedingt auf den Stuhl Cyrus gegenüber hin, wenn sie sprechen wollen. Es wird gelacht, es wird geweint, manche schütteln sich. Ganz unbeeindruckt fragt plötzlich ein junger Mann, der schon eine Weile seinen Oberkörper hin und her gewiegt hat, wie ein bockiges Kind, warum Cyrus seine letzte Mail nicht beantwortet habe. Cyrus lächelt nur. Da hat wohl das falsche Ich einen verbotenen Wunsch gehabt und auch nicht die richtige Frage gestellt. Erleuchtung ist eben keinem garantiert.

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