berliner szenen
: Nackedeis in der Spree

Ungeniert

Es ist ein schwüler Sonntag. Kein Lüftchen, nirgends. Wer kann, entflieht Berlin, sucht nassen Trost an einem See. Hinter dem S-Bahnhof Hackescher Markt findet sich eine kleine Fläche Rasen, ein paar Bäume spenden Schatten. Hier liegt man dicht an dicht, mit Blick auf die Museumsinsel. Die Alte Nationalgalerie steht vis-à-vis, die Spree fließt kühl dahin. Zwei junge Männer um die Dreißig stellen ihre Räder am Geländer zum Fluss ab und durchschreiten ein offenes Tor, klettern ein paar Stufen zur Spree hinab – und kommen eine ganze Weile nicht mehr zum Vorschein. Plötzlich tauchen beide splitternackt wieder auf, holen ihre Taschen vom Gepäckträger und trinken Wasser. Um dann wieder zu verschwinden. Ins Wasser, wie sich herausstellt. In die Spree. Vom Kaigeländer aus sind die beiden Nackten gut zu sehen. Die kümmern sich nur um sich selbst. Sie steigen vorsichtig in die Spree hinab, die unter Wasser liegenden Stufen scheinen glitschig zu sein, sie halten sich aneinander fest, lachen. Und sitzen auf einem kleinen Steinplateau im Flußwasser, das ihnen nun bis zu den Hüften reicht. Mit beiden Händen schöpfen die Männer Wasser, lassen es sich selbst und einander helfend den Rücken hinab laufen. „Mann, ist das kalt“, kann man den einen jauchzen hören. Genug abgekühlt, klettern die Nackten aus dem Wasser, setzen sich auf die Steinstufen und sonnen sich. Nach einem Viertelstündchen gehen sie noch einmal baden. Und sonnen sich wieder. Dabei scheinen sie sich sehr zu amüsieren. Besonders, als eines der zahlreichen Schiffe voller Touristen auf Sightseeing-Tour die Spree entlang schippert. Viele interessieren sich plötzlich gar nicht mehr für die Alte Nationalgalerie. Sie starren ungläubig auf die beiden Nackedeis, die sich ungeniert präsentieren. Die Touris lachen und winken, ein paar zücken die Fotoapparate. Die „Fotomodelle“ grüßen zurück und grinsen in die Objektive. ANDREAS HERGETH