Wie durch einen Filter

„Berufsossi“ mit kaltem Blick: Antje Rávic Strubel hat mit „Offene Blende“ einen großartigen Roman geschrieben, der in der Fremde das Vertraute schillern lässt. Bald erscheint ihr zweiter deutsch-deutscher Roman, heute liest sie im LCB. Ein Porträt

von SUSANNE MESSMER

Wie sie mit ihrem wuchtigen, blitzenden Motorrad vorfährt: imposant. Wie sie auf mich zutritt, freundlich distanziert, das wirkt beinahe abgefärbt von ihrer Figur, der stolzen, geheimnisvollen Christiane, deren Geschichte ich eben noch, ein paar Parkbänke entfernt vom verabredeten Café, zu Ende gelesen habe. Ich bin nicht ganz sicher, ob der Hauch von Exotik, der plötzlich über der Szene liegt, noch vom Buch kommt oder von Antje Rávic Strubel selbst. Der Glanz, der vom Unvertrauten ausgeht, jedenfalls ist es, den Antje Rávic Strubel verkörpert, als wäre es nichts. Nichts Besonderes auch, einen Preis beim Klagenfurter Literaturwettbewerb abzuräumen. Ein Klacks, mit 27 am dritten Roman zu schreiben und einen weiteren in der Schublade zu haben, nebenher eine Ausbildung und ein Studium abgeschlossen und in New York gelebt zu haben.

Das alles verlangt Respekt. Und so unterhalten wir uns erst mal über ihren Debütroman. „Wie kann man überhaupt noch aus heutiger Sicht etwas über den Osten sagen? Und wie sieht ein Mensch aus, der eine unsichtbare Vergangenheit hat?“, so formuliert Antje Rávic Strubel ihre zentrale Fragestellung. Es sei ihr nicht um die Vergangenheit der DDR gegangen, sondern um das Zurechtfinden, nachdem diese Vergangenheit nicht mehr existiert. „Und das kann man nicht ausdrücken, indem man sagt, dass früher die Waschpulversorten anders hießen“, sagt sie.

„Offene Blende“, in diesem Frühjahr erschienen, erzählt eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte in New York. Christiane, die 1987 aus der DDR nach New York geht, versucht vergeblich, dort anzukommen. An einem Off-Theater inszeniert sie seltsam starre Stücke, die das Leben in der DDR konservieren. Weder bei ihrem Liebhaber noch bei den Schauspielern erntet sie damit Verständnis. Als sie sich nach acht Jahren in die junge westdeutsche Fotografin Leah verliebt, tut sie, als sei sie Amerikanerin, schiebt ihre Vergangenheit krampfhaft weg. Das aber macht sie in der Stadt der tausend Identitäten zu genau der Ostdeutschen, die sie eben nicht sein will. Leah versteht nicht, was mit Christiane los ist.

Es ist bezeichnend, dass Antje Rávic Strubel ihren Roman eher aus der Sicht Leahs geschrieben hat. Während der Wende etwa 15 Jahre alt, gehört sie vielleicht zur ersten Generation, die gerade noch so viel von der DDR mitbekommen hat, um sie heute kühlen Blicks einfach nur interessant zu finden, die aber die Stolpersteine, denen Ältere ausgesetzt waren, umgehen konnte. Für Strubel war die amerikanische Literatur ein Fluchtpunkt, sie interessierte sich jahrelang kaum für die Literatur ihres Landes. Über diesen Umweg kann sie heute umso gelassener über die DDR schreiben. Der Vergleich mit Uwe Johnsons New-York-Tetralogie „Jahrestage“ liegt auf der Hand: Vielleicht ist es Antje Rávic Strubel gelungen, an dem Ton Johnsons anzuknüpfen, mit dem er begann, sich durch die Faszination am Fremden vom Heimweh loszuschreiben. „In New York, wo die Häuser an Gebirge erinnern, ist die Zivilisation längst umgekippt“, erzählt Strubel. Hier hat sie den idealen Ort gefunden, wo sich ihre Figuren neutral begegnen können. Und wo die DDR wie durch einen Filter zuerst verschwimmt, dann breit auffächert und schillert.

Antje Rávic Strubel ist vorgeworfen worden, ihre Texte seien berechnet. Und wirklich wirkt auch ihre ganze Art durchstrukturiert. Was sie von sich preisgibt, ist die Sachlichkeit eines Lebenslaufs. In Potsdam geboren, in Ludwigsfelde bei Eltern aufgewachsen, die lesegeschult seien und heute ihre Bücher mögen, mit 18 nach Berlin gegangen. Hier macht sie aus Angst vor Arbeitslosigkeit eine Buchhändlerausbildung, die sie auch noch durchzieht, als sie erfährt, dass in Berlin 200 Buchhändler arbeitslos sind. Heute wohnt sie wieder in Berlin, in Kreuzberg, studiert und jobbt aber in Potsdam, schreibt journalistisch, weil sie sich finanziell nicht auf ihre Romane verlassen will.

Schon die Beschreibung ihres Lebens klingt so karg, als wäre auch dies ein von ihr geschriebender Text. Denn sie arbeitet nicht ins Blaue hinein, sondern kontrolliert. Immer schon hat sie kurze Geschichten geschrieben, über die sie nie hinauskam. Erst der Umweg über ein abstraktes Konzept, das mit ihr selbst nur entfernt zu tun hat, also keine wirklich selbst erlebte Geschichte, war die Hilfe, auch Längeres schreiben zu können. Ihr kompliziert gebauter Roman: zuerst eine Form, in die man dann die Figuren gießt. „Es ist immer Arbeit, das Schreiben“, erzählt sie, und dass die Figuren nie in eine Richtung gehen, die sie nicht erwartet. „Und wenn doch“, sagt sie lachend, „dann werden sie schon wieder auf die Bahn gebracht.“ Nur selten mal gebe es einen kurzen Rausch. Leider.

Man kann dem ausgeklügelt Durchkomponierten ihres Schreibens auch etwas abgewinnen, den Vorwurf der Rationalität umdrehen. Denn so entsteht bei Strubel eine tolle Vielschichtigkeit, die Klischees und Nostalgie locker überschreitet. Dass eine Freundin sie mal einen „Berufsossi“ genannt hat, das ist genau der Reiz, der von ihren Büchern ausgeht. Es ermöglicht den kalten, ethnologischen Zugriff auf eine Geschichte, die viele immer noch nur von innen sehen können. Dies gepaart mit einem durch und durch sympathischen Größenwahn, der zum Beispiel in den Kapitelüberschriften von „Offene Blende“ zum Ausdruck kommt, ergibt ein Konzept, in dem Berechnung spannend wird. „Guten Morgen, du Schöne“ heißt in Anspielung auf den Protokollband der viel zu früh verstorbenen Maxi Wander zum Beispiel das vorletzte Kapitel. Kein bescheidener Rahmen, in dem sich Strubel also bewegt. Besonders auch deshalb nicht, weil sie so ziemlich die einzige ihrer Generation ist, die sich endlich literarisch mit der Geschichte und der Literatur der DDR auseinander setzt.

Wir grübeln sehr lange im Café, ob uns noch jemand ihres Alters einfällt, der sich so wie sie mit der DDR beschäftigt. Aber uns fallen vor allem Ältere ein, die mit ihrem didaktischen Anspruch langweilen, Autoren wie Volker Braun, zu dem ihr rausrutscht: „Ist jetzt auch mal gut, Volker.“ Neben den Bekannten Ingo Schulze und Thomas Brussig, den sie ebensowenig mag wie ich, sind da vielleicht noch Katrin Dorn und Ines Geipel, die sie bewundert, die aber keine vergleichbare Vogelsperspektive gewinnen. Und dann die Leute von den Lesebühnen, Jakob Hein und Falko Hennig, erzählt sie. „Aber so etwas, was ich mache, wüsste ich jetzt auch nicht.“

Im November wird von Antje Rávic Strubel der Roman „Unter Schnee“ erscheinen, eine weitere Geschichte über deutsch-deutsche Befindlichkeiten und eine lesbische Liebe in einem tschechischen Wintersportort. Dieser Roman ist während der Arbeit an „Offene Blende“ entstanden, als es damit nicht weiterging. Und jetzt schreibt sie an einem neuen Roman über eine Flugzeugentführungsgeschichte, in dem die DDR auch wieder eine große Rolle spielen wird. Kämpfernatur, die sie ist, wird sie heute im Literarischen Colloquium nach vorn gehen und deklarieren, dass es wieder eine junge, ostdeutsche Literatur gibt, die sich auch mit der DDR-Vergangenheit beschäftigt. Vielleicht gibt es ja jemand, der sich ihr anschließt.

Antje Rávic Strubel liest heute mit Katrin Askan im Literarischen Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Wannsee. Danach Gespräch mit Jana Hensel